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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne
Autoren: Haruki Murakami
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ihr Ohr. Ich sah ihr in die Augen. Mein Gesicht spiegelte sich in ihnen. Wie stets schimmerte in ihnen eine Quelle, so tief, dass man ihren Grund nicht erblicken konnte. Ein schwaches Licht flackerte darin, das mir wie ihr Lebenslicht erschien. Eines Tages würde es verlöschen, doch noch leuchtete es. Sie lächelte mich an, und es bildeten sich die vertrauten kleinen Falten in ihren Augenwinkeln. Ich küsste die Fältchen.
    »Jetzt darfst du mich ausziehen und tun, was dir gefällt. Eben war ich an der Reihe, und jetzt tun wir, was du möchtest.«
    »Vielleicht mangelt es mir an Fantasie, aber mir steht der Sinn nach etwas sehr Normalem. Genügt das?«, sagte ich.
    »Alles, was du willst«, sagte Shimamoto. »Ich mag es auch normal.«
    Ich zog ihr das Kleid aus und die Unterwäsche. Ich legte Shimamoto auf den Boden, um sie am ganzen Körper zu küssen und jeden Winkel davon zu erkunden. Dabei berührte ich sie und küsste ihren Mund. Ich ließ mir unendlich lange Zeit und prägte mir alles genau ein. So viele Jahre hatte es gedauert, bis wir an diesem Punkt angelangt waren. Wie Shimamoto wollte auch ich nichts überstürzen. Ich hielt mich zurück, so lange ich konnte, und als ich mich nicht mehr beherrschen konnte, drang ich langsam in sie ein.
    Erst kurz vor dem Morgengrauen schliefen wir ein. Immer wieder hatten wir uns auf dem Fußboden geliebt. Mal sanft und zärtlich, dann wild und leidenschaftlich. Einmal hatte sie, während ich in ihr war, so heftig zu weinen begonnen, als wäre ein Damm in ihr gebrochen, und mir mit den Fäusten auf die Schultern und den Rücken geschlagen. Hätte ich sie nicht so fest umschlungen, wäre sie womöglich in Stücke zersprungen. Während der ganzen Zeit streichelte ich ihren Rücken, um sie zu beruhigen, küsste ihren Hals und fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar. Auf einmal war sie nicht mehr die kühle, beherrschte, starke Shimamoto. Alles, was im Innersten ihres Herzens festgefroren gewesen war, schien allmählich zu schmelzen und an die Oberfläche zu drängen. Ich spürte seinen Hauch und seine leisen Regungen. Ich hielt Shimamoto an mich gedrückt und nahm dieses Beben in meinem Körper auf. So würde sie nach und nach mein werden. Ich würde sie nie mehr loslassen.
    »Ich will alles über dich wissen«, sagte ich. »Wie du bisher gelebt hast und wo du wohnst. Ob du verheiratet bist oder nicht. Alles von Anfang bis Ende. Ich kann es nicht länger ertragen, dass du mir etwas verheimlichst.«
    »Morgen, ja?«, sagte Shimamoto. »Morgen werde ich dir alles erzählen. Frag mich jetzt nichts mehr. Heute sollst du noch unwissend sein. Wenn ich dir jetzt alles erzähle, kannst du nie mehr so sein, wie du jetzt bist.«
    »Das will ich sowieso nicht. Und vielleicht wird es auch nie Morgen werden, und ich erfahre es nie.«
    »Ich wünschte, es würde niemals Morgen werden«, sagte Shimamoto. »Dann würdest du es nie erfahren.«
    Als ich etwas erwidern wollte, verschloss sie mir den Mund mit einem Kuss.
    »Von mir aus kann das alles der Kahlkopfgeier fressen«, sagte sie. »Ob er das könnte?«
    »Klar, das würde ihm schmecken. Kahlkopfgeier fressen Kunst, warum nicht auch den nächsten Morgen.«
    »Und die anderen Geier?«
    »Die fressen nur die Leichen namenloser Menschen«, sagte ich. »Mit Kahlkopfgeiern nicht zu vergleichen.«
    »Die Kahlkopfgeier leben also von Kunst und dem nächsten Morgen?«
    »Genau.«
    »Was für eine schöne Mischung.«
    »Und zum Nachttisch nehmen sie ein Häppchen von einem Verlagsverzeichnis.«
    Shimamoto lachte. »Morgen auf alle Fälle, ja?«, sagte sie.
    Natürlich wurde es irgendwann Morgen. Doch als ich aufwachte, war ich allein. Der Regen war fortgezogen, und durch das Schlafzimmerfenster fiel transparentes, helles Morgenlicht. Ich sah auf die Uhr, es war nach neun. Shimamoto lag nicht im Bett, nur auf dem Kissen neben mir war noch eine leichte Vertiefung von ihrem Kopf geblieben. Sie selbst war nirgendwo zu finden. Ich sprang aus dem Bett und suchte. Im Wohnzimmer, in der Küche, im Kinderzimmer und im Bad. Doch sie war nicht da. Auch ihre Kleider waren fort, und ihre Schuhe waren aus dem Flur verschwunden. Ich atmete tief durch und versuchte mich wieder in die Wirklichkeit einzufinden. Doch die Wirklichkeit war ein mir unvertrauter, seltsamer Ort geworden. Sie hatte eine völlig andere Gestalt angenommen. Sie stimmte nicht.
    Ich zog mich an und lief aus dem Haus. Mein BMW stand noch an derselben Stelle, an der ich ihn am Abend geparkt
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