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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne
Autoren: Haruki Murakami
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hatte. Vielleicht war Shimamoto früh aufgewacht und hatte einen Spaziergang unternommen. Ich rannte ums Haus und suchte sie. Anschließend stieg ich in den Wagen und fuhr fast den ganzen Weg bis Miyanoshita. Doch von Shimamoto keine Spur. Auch als ich wieder zu dem Wochenendhaus kam, war sie nicht zurück. Ich hoffte, dass sie vielleicht eine Nachricht hinterlassen hatte, und durchsuchte das ganze Haus. Aber es war nichts zu finden. Kein Anhaltspunkt dafür, dass sie jemals dort gewesen war.
    Ohne sie erschien mir das Haus so leer, dass es mir den Atem nahm. Es lag etwas Raues, Körniges in der Luft, und mir war, als ob ich es beim Einatmen in meine Kehle sog. Plötzlich fiel mir die alte Schallplatte von Nat King Cole ein, die sie mir geschenkt hatte. Doch sosehr ich auch suchte, ich fand sie nicht. Offenbar hatte Shimamoto sie mitgenommen.
    Wieder einmal war sie aus meinem Leben verschwunden. Und diesmal wahrscheinlich nicht nur für eine Weile.

15
    Kurz vor vier Uhr war ich wieder in Tokio. In der Hoffnung, Shimamoto würde zurückkommen, hatte ich bis zum Nachmittag in Hakone gewartet. Tatenlos herumzusitzen, wäre eine Qual gewesen, also hatte ich mir die Zeit damit vertrieben, die Küche zu putzen und Kleidung zu sortieren. Die Stille lastete schwer auf mir, und die Rufe der Vögel und die Geräusche vorbeifahrender Wagen, die hin und wieder zu hören waren, erschienen mir künstlich und fehl am Platz. Sie klangen wie von einer unbekannten Macht gewaltsam verzerrt oder unterdrückt. Ich wartete. Etwas muss doch geschehen, dachte ich. So kann es nicht enden.
    Doch nichts geschah. Shimamoto war keine Frau, die einen einmal gefassten Entschluss einfach wieder rückgängig machte. Ich musste nach Tokio zurück. Sollte sie versuchen, mich zu erreichen – auch wenn das beinahe unvorstellbar schien –, dann am ehesten in der Bar. Jedenfalls hatte es keinen Sinn, noch länger in Hakone zu bleiben.
    Auf der Fahrt musste ich mich ständig zwingen, mich auf den Verkehr zu konzentrieren. Einige Male übersah ich eine rote Ampel, bog falsch ab oder geriet auf die verkehrte Spur. Als ich auf dem Parkplatz an der Bar angekommen war, rief ich aus einer Telefonzelle zu Hause an, um Yukiko mitzuteilen, dass ich wieder zurück sei und direkt ins Büro gehen würde.
    »Warum meldest du dich jetzt erst? Ich habe mir die ganze Zeit Sorgen gemacht. Du hättest doch mal anrufen können«. Ihre Stimme klang hart und spröde.
    »Es ist nichts passiert. Kein Grund zur Sorge«, sagte ich. Ich hatte keine Ahnung, wie meine Stimme in ihren Ohren klang. »Ich habe nicht viel Zeit. Deshalb gehe ich gleich ins Büro, um die Bücher durchzusehen, und von dort in die Bar.«
    Ich saß bis abends untätig an meinem Schreibtisch und dachte über die Ereignisse der vergangenen Nacht nach. Wahrscheinlich hatte Shimamoto kein Auge zugetan und war, nachdem ich eingeschlafen war, aufgestanden und hatte das Haus im Morgengrauen verlassen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie wieder nach Tokio gelangt war. Bis zur Hauptstraße war es ein weiter Weg, und selbst wenn sie es bis dorthin geschafft hatte, war es in den Bergen um Hakone fast unmöglich, so früh am Morgen einen Bus oder ein Taxi zu finden. Außerdem hatte sie Schuhe mit hohen Absätzen getragen.
    Warum hatte Shimamoto mich auf diese Weise verlassen? Schon während der ganzen Rückfahrt hatte ich über diese Frage nachgegrübelt. Ich hatte ihr gesagt, ich würde sie ganz nehmen, und sie hatte gesagt, sie habe sich für mich entschieden. Wir hatten uns rückhaltlos geliebt. Dennoch hatte sie mich verlassen und war ohne ein Wort der Erklärung verschwunden. Sogar die Schallplatte, die sie mir geschenkt hatte, hatte sie mitgenommen. Ich bemühte mich, mir irgendeinen Reim auf ihr Verhalten zu machen. Es musste doch einen Sinn haben, es musste einen Grund dafür geben. Shimamoto war nicht der Typ, der sich so verhielt. Aber ich war nicht in der Verfassung zu logischem Denken. Sämtliche Fäden führten lautlos ins Leere. Als ich mich dennoch zum Nachdenken zwang, bekam ich stechende Kopfschmerzen. Ich merkte, wie erschöpft ich war. Ich setzte mich auf den Boden, lehnte mich an die Wand und schloss die Augen. Als ich sie einmal geschlossen hatte, bekam ich sie nicht wieder auf. Das Einzige, was noch funktionierte, war mein Gedächtnis. Mein Denken war ausgeschaltet, nur mein Gedächtnis spulte meine Erinnerungen wie auf einem Endlosband immer wieder ab. Ich sah Shimamoto nackt und mit
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