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Süden und die Frau mit dem harten Kleid

Süden und die Frau mit dem harten Kleid

Titel: Süden und die Frau mit dem harten Kleid
Autoren: Friedrich Ani
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Fragen stellte, erzählte sie dieselbe Geschichte, und da ihre Tochter eine Menge Frauen kannte, die ihre Kinder allein aufzogen, endete das Gespräch immer friedvoll, immer schön.
    Und dann, in diesem Sommer, nach diesem schrecklichen Unfall, verwarf sie alle Legenden und nannte ihrer Tochter den Namen des Vaters und verriet ihr seine Lebensumstände. Warum? Warum hatte sie das bloß getan? Ja, sie war schwer verletzt gewesen, wochenlang hatte sie Todesängste ausgestanden, und sie stellte sich vor, wie ihre Tochter wohl allein zurechtkommen würde, ihre Lili hatte niemanden, keine Geschwister, keine Onkel und Tanten, niemanden, nur einen verschwundenen Vater und eine tote Mutter.
    Dann hättest du ein Schicksal gehabt wie ich, Liane. Und ich begreife, warum deine Mutter dir diese Tür geöffnet hat. Sie tat es nicht aus Angst vor dem Tod, nicht aus Scham über die Lüge, die sie dir von Anbeginn mit auf den Weg gegeben hatte, nicht aus Reue oder dem Wunsch nach Erlösung. Sie tat es, weil sie fürchtete, dein Leben könne sich gegen dich wenden, wenn du nie die Chance bekämst, wenigstens ein einziges Mal in der Nähe jenes Menschen zu sein, ohne den du nicht auf der Welt wärst. Sie schenkte dir eine schwere Freiheit und überließ es ganz dir, diese zu nutzen oder nicht. Und was immer daraufhin geschehen ist – du hast nicht das Recht, über deine Mutter den Stab zu brechen .
    Übe zu verstehen, Liane, immer wieder von neuem! Deshalb schreibe ich dir, vielleicht aus diesem einen Grund: dass du aufhören mögest zu verurteilen .
    Wie deine Mutter aufhörte, sich zu verurteilen. Wieder einmal hatte sie eine Entscheidung getroffen und allen Zweifeln zum Trotz war sie schließlich überzeugt, ihren Entschluss auf keinen Fall ändern zu dürfen .
    Sie zog sich um, schminkte sich, klebte frische Pflaster auf die Wunden in ihrem Gesicht und an ihrem Körper und verließ gegen sieben Uhr abends die Wohnung .
    In ihrer Handtasche hatte sie ein Foto, auf dem du ein Jahr alt bist.
     
    Beinah wäre sie an ihm vorbeigegangen, so verändert hat er sich. Außerdem sitzt er an einem Tisch, an dem sie ihn nicht erwartet hat. Natürlich hat sie vorher auf der Fahrt im Bus und in der U-Bahn keine Sekunde darüber nachgedacht, wo er sich hinsetzen würde, wo sie beide sitzen würden, unbelästigt von anderen Gästen. Bestimmt ist die Kneipe um diese Zeit voll, überlegte sie plötzlich, wir müssen uns irgendwo dazusetzen, und wenn wir leise sprechen, können wir einander in dem Krach nicht verstehen, und wenn wir lauter sprechen, hört jeder zu. Zu spät, dachte sie vor der Tür, während sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um einen Blick durch die Fenster zu werfen, die jedoch so hoch waren, dass man Gesichter nicht deutlich erkennen konnte. Sie sah nur Köpfe. Jetzt bin ich hier, dachte sie, jetzt kann ich nicht mehr zurück .
    Dass er genau an dem Tisch unter dem Tresen sitzen würde wie sie damals, damit hat sie nicht gerechnet .
    Sie dreht sich um, er blickt zu ihr hoch und erkennt sie sofort.
    »Du«, sagt er, bleibt sitzen, zeigt auf den freien Stuhl neben sich. Er sitzt auf der Bank, mit dem Rücken zur Wand.
    Sie wickelt den Schal vom Hals, zieht den Reißverschluss ihres Anoraks auf, bringt kein Wort heraus .
    Die einzigen Worte, die ihr auf der Zunge liegen, sind: Mein Gott, sieht der kaputt aus!
    Anstatt ihr die Hand zu geben oder sie auf die Wange zu küssen, was ihr vermutlich unangenehm gewesen wäre, hebt er sein Bierglas.
    »Auf dich«, sagt er.
    Endlich sagt sie: »Grüß dich, Johann.«
    »Grüß dich«, sagt er. Wie automatisch. Und wie automatisch wirft sie einen Blick auf seinen Bierdeckel, es passiert ihr einfach, sie weiß, es geht sie nichts an, wie viele Striche dort schon sind. Seit sie ihn zufällig in jenem Café getroffen hat, ist ihr klar, in welchem Zustand er sich befindet und dass sich nichts, absolut nichts geändert hat, außer seinem Aussehen. Das allerdings hat sich fürchterlich geändert, wie sie findet. Eigenartig, in dem Café war er ihr nicht so ausgemergelt vorgekommen, so zerstört, so alt. Vielleicht, weil die Sonne schien, vielleicht, weil sie so perplex war, ihn zu treffen, dass sie nur seine Worte wahrnahm, die auf sie niederprasselten, unaufhörlich, vielleicht, weil sie selbst in einem Anfall von Unsicherheit und Verlegenheit innerhalb einer Viertelstunde zwei Gläser Wein bestellt und ausgetrunken hatte.
    »Was kriegstn?« Mit einem entspannten Duz-Gesicht steht die junge
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