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Süden und die Frau mit dem harten Kleid

Süden und die Frau mit dem harten Kleid

Titel: Süden und die Frau mit dem harten Kleid
Autoren: Friedrich Ani
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geht. Sie glaubte mir nicht, als ich erklärte, ich wisse nicht, woher du angerufen hast. Ich habe das Versprechen, das ich dir gegeben habe, nicht gebrochen.
    Dennoch weiß ich, wo du wohnst, Liane. Wir haben deinen Anruf, den du von einem Handy aus geführt hast, zurückverfolgt, was, wie ich dir sagen muss, keinen sehr hohen technischen Aufwand bedeutet. Den Kollegen in Berlin hatte ich deine Beschreibung übermittelt, und sie hatten keine Schwierigkeiten, dich zu identifizieren. Einer von ihnen besuchte sogar einen deiner Auftritte am Prenzlauer Berg, er sagte mir, du seist eine wunderbare Sängerin, nur die Band tauge nicht viel .
    »Isn bisschen wie bei Janis Joplin, wa?«, meinte der Kollege am Telefon. »Geile Stimme, aber die Full Tilt Boogie Band war doch eher voll tilt gewesen, wa?«
    Niemand hat dich belästigt, Liane. Du wirst nicht beschattet, alles, worum es mir ging, war, eine Adresse herauszufinden, an die ich dir schreiben kann. Noch in der Nacht nach unserem Gespräch begann ich mit diesem Bericht. Du hast mich ermutigt, und ich leihe mir Mut von dir für meine Wörter.
    Seit deinem Verschwinden hatten wir im Dezernat 11 neun weitere Vermissungen, die alle gut ausgegangen sind, wenn dies die passende Formulierung dafür ist, dass wir die vermisste Person gefunden haben oder diese freiwillig zurückgekehrt ist und nun ihr altes Leben weiterführt, in der alten Enge, mit der alten Ratlosigkeit .
    Einmal, an einem späten Freitagnachmittag, ging ich während einer Dienstbesprechung zum Fenster und öffnete es, da Sonja den Rauch von Thons Zigarillo nicht länger aushielt, und ich sah hinunter auf die Straße und den Platz vor dem Hauptbahnhof, und da stand ein Mann, dem ich schon einmal begegnet war. Der Mann vom Ufer des Kleinhesseloher Sees, der sich Raphael nannte und mir versicherte, ich wisse, was ich tun müsse, ich wisse es genau. Reglos stand er am Straßenrand, den knorrigen Stock in der Hand, der lange Mantel schleifte über die Erde. Und für einen Moment blickte er zu mir herauf, und ich war mir sicher, er wollte mich ein zweites Mal ermuntern und musste erkennen, dass es zwecklos war.
    Nach einer gewissen Zeit, wenn man die Aussagen der Angehörigen, Freunde, Bekannten, Arbeitskollegen so oft gelesen hat, dass man manche Passagen auswendig hersagen kann, verschwindet die Zuversicht von allein .
    Sie ist fort wie die Person, der sie gegolten hatte, und wie diese wird sie nicht zurückkehren. Wir im Dezernat wissen es, die Angehörigen und Freunde wissen es, und alle tun wir dennoch so, als glaubten wir an ein Wunder .
    Und als ich den Mann, der sich Raphael nannte, dort unten stehen sah, dachte ich: Vielleicht hat der Schein der vier Kerzen, die ich in der Josephskirche angezündet hatte, die Finsternis, aus der wir unsere Furcht herholen, durchdrungen und die Gesetze der Logik eines jeden Kriminalisten außer Kraft gesetzt. Manchmal passieren solche Wunder, heißt es. Niemandem, nicht einmal meinem besten Freund Martin, habe ich von der Begegnung mit Raphael erzählt, nur du weißt davon, wie von so vielem anderen, das außerhalb dieses Berichts nirgendwo existiert. Was ich dir damit sagen wollte? Ich weiß nicht, ich habe in die Zimmer deiner Familie gesehen und brachte die Augen nicht mehr zu. Ich konnte nicht mehr wegsehen. Warum nicht? Warum nicht?
    Du siehst, jetzt stelle ich die Warum-Fragen und ich weiß keine Antwort. Wenn wir deinen Vater gefunden hätten, würde es diesen Bericht nicht geben und du wärst vielleicht nicht in Berlin und deine Mutter … Wir führen kein Leben im Konditional, du hast das längst begriffen. Deine zwei Anrufe sind der Beweis. In meinem Beruf aber treffe ich dauernd auf Menschen, die hätten, würden, wären, die auf eine unheimliche Weise niemals in ihrer eigenen Gegenwart ankommen. Als wären sie eines Morgens in einen Wald geraten und hätten nicht mehr herausgefunden.
    So wie dein Vater. Wie gerne würde ich mit ihm sprechen, ihm zuhören, egal, wie viel er sabbelt, ich hätte die Geduld … Hätte, würde.
    Die Geschichte von Johann Farak, deinem Vater, von dem du nichts wusstest, endet ohne Ende. Du musst mir nicht antworten, Liane, nicht mir. Es hat angefangen zu schneien.
    Im Flur blinkte das rote Licht des Anrufbeantworters, ich hatte vergessen, ihn abzuhören. Ich drückte den Knopf .
    »Kollege Süden, grüß Gott«, sagte eine männliche Stimme. »Kollege Biller hier, vom Zweiundvierziger. Wir haben eine männliche Leiche im Nymphenburger
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