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Süden und die Frau mit dem harten Kleid

Süden und die Frau mit dem harten Kleid

Titel: Süden und die Frau mit dem harten Kleid
Autoren: Friedrich Ani
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sie und blickte ihr über die Schulter .
    Auf allen Fotos, so weit ich es überblicken konnte, war dein Vater zu sehen. Als junger Mann, als Jugendlicher, als Kind, als Baby.
    »Hier …«, sagte Hanne Farak und deutete mit dem Kopf auf eines der Bilder. »Hier ist er ein Jahr alt. Da lacht er schon. Er lacht. Hat er später nie wieder getan, wenn wir geknipst haben. Mein Mann hat dauernd fotografiert .
    Wozu? Er ist weg und hat kein einziges Foto mitgenommen.«
    Auf manchen Bildern hatte dein Vater ein Holzbrett und einen Pinsel in der Hand und blickt ernst und abweisend in die Kamera.
    »Sie haben nie wieder von Ihrem Mann gehört?«, sagte ich.
    »Nein«, sagte sie, über den Tisch gebeugt. Mit der flachen Hand fuhr sie über die Fotos, mischte sie wie Spielkarten .
    »Warum nicht?«, fragte ich.
    Sie setzte sich aufrecht hin, hob den Kopf und blickte starr zum Fenster.
    »Ich war viel allein«, sagte sie. »Ich habe ihm in der Praxis geholfen, aber ich war trotzdem allein. Und manchmal war ich so allein, dass ich es nicht mehr aushielt. Dann nahm ich Tabletten. Später stärkere Tabletten. Am Wochenende, wenn die Praxis geschlossen war, saß ich oft zu Hause im Dunkeln und redete kein Wort. Kein Wort.
    Und eines Tages legte ich mich in die Badewanne und schnitt mir die Pulsadern auf. Blöderweise kam mein Mann früher zurück. Er rettete mich. Das war das Ende .
    Von da an wandte er sich von mir ab. Mit einer potentiellen Selbstmörderin wollte er nichts zu tun haben. Er hat dafür gesorgt, dass die Kinder nichts mitbekamen, das ist ihm gelungen. Meine Verletzungen habe ich geheim gehalten. Natürlich ließ sich mein Mann nicht scheiden, er wollte seine Existenz nicht gefährden. Dann sperrte er seine Praxis zu, hob das ganze Geld von unserem gemeinsamen Konto ab und überwies es nach Ägypten, in seine ›Heimat‹! Ich hatte nichts mehr. Seine Verachtung für mich war grenzenlos. Und jetzt gehen Sie bitte und bringen mir meinen Sohn zurück!«
    Sie begleitete mich nicht zur Tür .
    Draußen lehnte ich mich gegen die Hauswand, legte den Kopf in den Nacken und blickte in den schwarzen Himmel hinauf. Kein Stern für die Verlorengegangenen, kein einziger.

15
    D en Schlüssel hatte Mathilda bei Franz Beck abgegeben. Sie hatte den Bankangestellen gebeten, mir auszurichten, sie fahre nach Münzing zurück, weil sie am Montagmorgen um sieben Uhr in der Gärtnerei arbeiten müsse.
    Der Einzelnesser aus dem ersten Stock fragte mich nach dem Stand der Ermittlungen, und ich sagte, wir kämen voran.
    »Dass der Farak eine Schwester hat!«, sagte Beck an der Tür. »Dass der eine Familie hat, hätt ich nicht gedacht .
    Wollen Sie was trinken? Jetzt sind Sie ja außer Dienst um diese Zeit, oder nicht?«
    »Nein«, sagte ich und machte mich auf den Weg zur Wohnung deines Vaters.
    Im Wohnzimmer setzte ich mich auf die Couch, legte die Fernsehillustrierte, deren Programm am achten Oktober endete, auf den Boden und schloss die Augen .
    Ich dachte an das Märchen von Hans im Glück und ich sah deinen Vater vor mir und nannte ihn Johann im Unglück. Vielleicht hatte er sich all die Jahre über gewünscht, einmal so zu leben wie der Hans in der Geschichte, »mit leichtem Herzen und frei von aller Last«.
    Doch das Wünschen half ihm nicht, und als er sich am Ende zu seiner Mutter aufmachte, traf er dieselbe Frau, die er vor zwanzig Jahren verlassen und die ihn geschlagen und eingesperrt hatte. War das sein größtes Unglück: Zu erkennen, dass er den verkehrtesten Menschen aufgesucht hatte, den er nur finden konnte? Was hatte ihn getrieben, seine Mutter um Hilfe zu bitten, sie, in deren Nähe er verhungert war wie jener Hans verhungert wäre, wenn er nicht im richtigen Augenblick jemanden getroffen hätte, der seine Wegzehrung mit ihm teilte? Für Johann war keine Wegzehrung übrig, er zehrte von nichts, dabei ersehnte er nichts mehr als zu teilen, mit dir zu teilen, mit deiner Mutter zu teilen .
    War es nicht so?
    Er ging zu seiner Mutter, weil er glaubte, sie würde ihn endlich von der Schmach erlösen, als die er seine Existenz betrachtete, und ihm vergeben und sich selbst dazu .
    Und dann erkannte er, dass sie statt eines Kleides einen Panzer trug, und wenn man die Hand an diesen Panzer legte, froren die Finger fest. So flüchtete er. Wie damals .
    Doch diesmal wusste er nicht, wohin .
    Ich saß in seiner leeren Wohnung, das kleine zerlesene Märchenbuch in der Hand, wo es hieß: »So glücklich wie ich, rief er aus, gibt es
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