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Süden und die Frau mit dem harten Kleid

Süden und die Frau mit dem harten Kleid

Titel: Süden und die Frau mit dem harten Kleid
Autoren: Friedrich Ani
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hat Stress mit der Tochter«, sagte Weber. Es war äußerst ungewöhnlich, dass er das Wort für unseren Vorgesetzten ergriff, Weber hatte ein ähnlich distanziertes Verhältnis zu ihm wie ich.
    »Sie ist neun«, sagte Thon. »Neun Jahre! Und führt anscheinend schon ein völlig eigenständiges Leben . Mit neun! Sie sitzt allein in ihrem Zimmer, sie blättert in Büchern, die sie nicht versteht, sie hört Nachrichten im Radio, sie gibt ihrer Mutter Ratschläge, wenn sie mit Sebastian nicht zurechtkommt. Und gestern …« Er stippte sein Zigarillo heftig in den silbernen Aschenbecher .
    »Heute früh sagt sie zu mir, sie sagt tatsächlich zu mir: ›Papa, wenn du dich nicht auf uns konzentrieren kannst, dann geh doch besser ins Büro! Wir kommen schon zurecht, sorg dich nicht um uns, wir schaffen das schon, Mama und ich, im Büro hast du sicher viel zu tun.‹ Ich kann das alles gern wiederholen, ich hab mir jedes Wort gemerkt. Wenn du dich nicht auf uns konzentrieren kannst, dann geh doch besser ins Büro … Hab ich dann gemacht. Hier bin ich!«
    »Was sagt Vera dazu?«, fragte Weber .
    »Sie sagt, ich soll mich nicht aufregen, Claudine ist eben frühreif, sie ist ein waches Mädchen, sie kriegt mit, was los ist. ›Was los ist?‹, sag ich. ›Was ist denn los? Stimmt was nicht? Mach ich was falsch? Bin ich unaufmerksam? Konzentrier ich mich nicht genug auf euch?‹ Und Vera sagt Nein, in ihren Augen ist alles okay, alles okay, Claudine sieht das eben anders.«
    Thon breitete die Arme aus. »Sie sieht das anders! Neun Jahre alt und sieht das anders! Ich bin nicht konzentriert genug, ich geh besser arbeiten, für die Arbeit reicht meine Konzentration. Oder seht ihr das anders?«
    Wahrheitsgemäß schüttelte ich den Kopf .
    »Will jemand einen Fernet?«, fragte Thon .
    Niemand widersprach. Jeder von uns trank einen Fernet .
    Und weil nur Flamingos gut auf einem Bein stehen, tranken wir noch einen zweiten. Und auf die frühreife Claudine noch einen dritten.
    »Was soll ich machen?«, fragte Thon. Er hatte sich wieder auf seinen Platz hinter dem Schreibtisch gesetzt, dorthin, wo er nach Meinung seiner Tochter am besten aufgehoben war. So eine Frage hatte er noch nie gestellt, an keinen in unserer Abteilung. Und ohne die drei Fernet hätte er sie auch jetzt nicht gestellt .
    »Sprich mit ihr!«, sagte ich.
    »Fabelhafte Idee!«, sagte er. »Glaubst du, das hab ich nicht getan? Sprich mit ihr! Weißt du, wie sie reagiert? Weißt du, wie meine neunjährige Tochter darauf reagiert, wenn ich mit ihr sprechen will? Ja? Ich verrats dir: Sie spricht mit mir! Sie redet mit mir, als wär ich irgendein verdammter Gesprächspartner und nicht ihr Vater! Verstehst du? Sie antwortet mir, sie stellt Gegenfragen, sie hört mir zu, sie schlägt sogar die Beine übereinander und stützt den Kopf in die Hand. Und sie sitzt an ihrem Tisch, und ich steh da. Ich stehe. Sie sitzt. Fehlt bloß noch, dass ich vor lauter Gegenlicht blinzeln muss. Beim Rausgehen hab ich gedacht, gleich ruft sie mir hinterher: ›Wir rufen Sie dann an, Herr Thon!‹ Ja, sie spricht mit mir und ich spreche mit ihr. Wir sprechen. Und jetzt bin ich hier, an meinem freien Wochenende. Das ist das Ergebnis des Gesprächs, so sind wir übereingekommen, ich hab zugestimmt, sie hat sich durchgesetzt. Herzlichen Glückwunsch, Fräulein Thon, Sie werden es noch weit bringen im Leben!«
    »Sie ist ein Kind, Volker«, sagte Weber. »Sie probiert was aus, sie meint das doch nicht böse, sie ahmt Erwachsene nach, das tun alle Kinder.«
    »Ich bin ihr Vater!«, rief Thon, schoss in die Höhe, setzte sich wieder und schlug mit seinem Zweihunderteuroschuh gegen den Tisch. »Sie ahmt keine Erwachsenen nach, sie ist erwachsen! Sie ist genauso erwachsen wie ich, verdammt!«
    Danach schwiegen wir. Durch die schlecht isolierten Fenster drangen Straßengeräusche herauf, Autohupen, das Klingeln von Straßenbahnen. Langsam zog der Zigarillorauch ins Vorzimmer .
    Weber wuchtete sich aus dem Ledersessel hoch .
    »Geh jetzt nach Hause!«, sagte er zu Thon. »Ich hab Nachtschicht.«
    »Schon wieder?«
    Weber nickte und zwinkerte mir zu. Was er mir damit sagen wollte, wusste ich nicht.
    »Und du?«, sagte Thon zu mir, und seine Stimme hatte schon fast wieder den üblichen Thonfall. »Hast du auch Nachtschicht?«
    »Ja«, sagte ich. »Ich führe noch eine Vernehmung durch.«
    »Aber nicht wegen diesem Mädchen, verstanden?«, sagte er .
    Ich sagte: »Nein, wegen ihrem Vater.«
     
    Wir blieben
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