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Süden und die Frau mit dem harten Kleid

Süden und die Frau mit dem harten Kleid

Titel: Süden und die Frau mit dem harten Kleid
Autoren: Friedrich Ani
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stumm an, ich war ungefähr vierzehn und so groß wie er, strich mir über die Wange und sagte: ›Ich werde mit ihr reden.‹ Nur das: ›Ich werde mit ihr reden.‹ Und da wusste ich mit einem Schlag, warum Johann so geworden ist, wie er damals war, plötzlich verstand ich ihn und ich hätte heulen können, so grausam war diese Erkenntnis. Als mein Vater sagte: ›Ich werde mit ihr reden‹, war mir so klar wie nichts auf der Welt: Er würde niemals mit ihr reden, niemals würde er etwas tun, was sie verletzen oder kränken oder irritieren könnte, niemals! Er hatte sie geheiratet, und auch wenn sie ihrem Wesen nach total verschieden waren, so ergänzten sie einander ideal: Er, der am Anfang seiner Karriere unsere Sprache erst langsam und schwerfällig lernen musste, war auf sie angewiesen, und sie, die aus einer Arbeiterfamilie stammte und keinen Beruf gelernt hatte, war auf ihn angewiesen. Er ermöglichte ihr ein gutes Leben und sie regelte den Alltag für ihn. Meine Mutter sorgte dafür, dass das tägliche Leben reibungslos funktionierte, dafür bekam sie nach und nach ein höheres gesellschaftliches Ansehen als das jedes anderen aus ihrer Verwandtschaft. Deshalb durfte niemand ihren Aufstieg stören .
    Und nachdem sie es geschafft hatte, musste die Fassade für immer dieselbe bleiben, vorzeigbar, ihrer Stellung im Ort angemessen. Und mein Bruder ist daran kaputtgegangen wie eine Skulptur aus Glas, die man in eisige Kälte stellt.«
    Unbewusst klopfte Mathilda Ross mit dem Rand des Bierglases, das sie mit wenigen Schlucken ausgetrunken hatte, gegen ihre Zähne. Wieder ein kleines nervquälendes Geräusch.
    »Und ich dachte, was mein Bruder tat, war nichts anderes als das, was meine Mutter tat, er erhielt sein Bild aufrecht. Ganz gleich, wie ihm zumute war, ganz gleich, welches Feuer und welcher Hass in ihm brannten, seiner äußeren Erscheinung durfte man nichts anmerken, niemals. Warum nicht? Warum wollte er so sein wie meine Mutter? Warum? Er hat diese Frau verachtet und diese Frau hat ihm Wunden zugefügt, die nicht heilten. Ich hab doch seine Wunden gesehen! Ich kenn doch meinen Bruder! Ich bin bei ihm gewesen in den Nächten, wenn er krank war und nach Luft gerungen hat, nach Luft zum Atmen, zum Überleben. Warum? Warum hat er sich nicht Luft gemacht? Bitte erklären Sie mir das! Bitte!«
    Sie sah uns nicht an. Nur ihr Glas, ihr vom Bier und von den essensfetten Fingern verschmiertes Glas. Sie hielt es mit einer Hand umklammert, es stand vor ihr auf dem Tisch wie eine Monstranz, die Teil ihres Lebens war, so wie sie in jungen Jahren Teil des Lebens ihres Bruders gewesen war. Und vielleicht war sie es noch heute, da er älter und noch mehr von den Wunden verunstaltet war, die er sich selbst zugefügt hatte und die ihm andere zugefügt hatten.
    Aber aus einem unerklärlichen Grund war ich überzeugt, er machte niemanden dafür verantwortlich, seine Mutter nicht und seinen Vater, niemanden. Nur sich selbst. Ausschließlich sich selbst.
     
    So früh er auch begonnen hatte, sich künstlerisch auszudrücken, so dumm war dein Vater nicht zu meinen, seine Kunst würde ihn aus seinen privaten Zwängen befreien und ihm eine Existenz für die Zukunft sichern .
     
    Wieso ich das glaube? Ich weiß es nicht. Ich glaube einfach, er spürte früh die Grenzen seiner Fähigkeiten, nicht ganz zu Beginn natürlich, da bedeutete die Entdeckung des Malens für ihn den Aufbruch in ein unbewohntes Gebiet, das allein ihm gehörte. Ich stelle mir vor, wie er zum ersten Mal ein Stück Holz zersägte und in eine bestimmte Form brachte, um seine billigen Wasserfarben, die ihm seine Eltern zu Weihnachten geschenkt hatten, darauf auszuprobieren, da glaubte er, er sei der Erfinder eines neuen revolutionären Stils, der Massen beeinflussen könne, schließlich gab es Holz in Hülle und Fülle, und man benötigte nur einfachste Mittel zum Malen. Jedem, egal, wie viel Geld er verdiente, war diese Art der Kunst zugänglich, er konnte sie herstellen und verkaufen oder tauschen, und so, dachte der junge, in sich lodernde Künstler vielleicht, entstand ein neues Zahlungsmittel, keine plumpen Scheine und Münzen mehr, stattdessen artifiziell gestaltetes Holz, vom Format her nicht größer als ein gewöhnlicher Geldschein, und je kunstvoller, je raffinierter die Gestaltung, desto mehr konnte man dafür kaufen. Und es würde nie mehr jemanden geben, der mittellos sein Leben fristen musste, selbst das billigste Stück Holz eignete sich dazu, mit
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