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Süden und die Frau mit dem harten Kleid

Süden und die Frau mit dem harten Kleid

Titel: Süden und die Frau mit dem harten Kleid
Autoren: Friedrich Ani
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Billigausgaben, unzählige Comics in auffallend unterschiedlicher Qualität und ein Band mit Märchen .
    Dieses Buch nahm ich heraus und blätterte darin. Die Seiten waren zerknittert und gelblich und fühlten sich rau an. In einer Geschichte hatte jemand Sätze unterstrichen, einzelne Wörter mit blauem Kugelschreiber eingekreist und winzige Gesichter an den Rand gemalt .
    »Kommen Sie bitte mal!«, rief Sonja .
    Ich steckte das Buch ein und ging zu ihr .
    Sie stand in der Tür des Badezimmers und deutete auf die Wanne. Mathilda lehnte erschrocken am Waschbecken. Die Wanne war bis zum Rand gefüllt mit Holzbrettern in verschiedenen Größen, zusammengerollten oder verkrumpelten gefalteten Blättern, Mappen, in denen offensichtlich Zeichnungen steckten, Dutzenden von etwa zehn auf zehn Zentimeter kleinen Gemälden, meist Gesichter in dunklen Farben, Skizzenblocks, verkrusteten Pinseln, verschmierten Paletten, hart gewordenen Lappen und Schwämmen.
    »Das ist sein Werk«, sagte Mathilda Ross mit leiser Stimme.
    Ich beugte mich über die Wanne. Wie du weißt, kenne ich einige Werke von van Gogh, gelegentlich besuche ich Ausstellungen und ich lese in einem Kunstbuch, ein Kenner bin ich deswegen nicht, und wie vielen Leuten rutscht mir, wenn ich ein Bild betrachte, das ich simpel finde, die Bemerkung heraus: Das könnte ich auch. Natürlich weiß ich, dass ich nichts dergleichen könnte, jedes Mal, wenn ich versuche, auch nur ein Strichmännchen aufs Papier zu bringen, starre ich fassungslos auf mein Gekrakel und denke: Das könnte jedes Kind besser. Ich sah mir die Holzbretter, auf die mit fetter Ölfarbe Landschaften und kuriose Figuren gemalt waren, näher an und dann auch einige der Zeichnungen. Mein erster Eindruck war, dass diese Arbeiten nicht nur mir nicht gefielen, sondern dass sie tatsächlich nicht viel taugten, dass sie mit unbeholfener Hand ausgeführt waren und keine Kraft ausstrahlten und nur sehr geringen künstlerischen Wert besaßen.
    Du musst verzeihen, ich spreche vom Werk deines Vaters, von seinem Lebenswerk, denn er hatte sein bisheriges Leben damit verbracht, zu malen und ein freier Künstler zu sein. Ich habe weder das Recht, über ihn noch über seine Arbeit zu urteilen. Und wenn ich sage, diese Bilder, die ich wahllos aus dem Stapel in der Badewanne herausgegriffen hatte, wirkten auf mich leer und sogar misslungen, gebe ich nur die Erschütterung wieder, die ihr Anblick bei mir auslöste. Plötzlich begriff ich die Angst, die Mathilda Ross um ihren Bruder hatte, und ich fing an, all das zu verstehen, was sie uns noch nicht gesagt und nur angedeutet hatte, und ich drehte mich so abrupt zu ihr um, dass sie erschrak. Auch Sonja sah mich irritiert an, aber ich konnte jetzt nicht sprechen. Ich drängte mich an ihr vorbei und ging hinüber ins Wohnzimmer, gegen dessen Fenster der Regen schlug .
    Ich stellte mich davor. Was ich sah, war die gelbe Wand des gegenüberliegenden Hauses, nur wenige Meter entfernt, und links die Einmündung der Bauerstraße in die Tengstraße, wo Passanten mit aufgespannten Schirmen vorüberhetzten und ein störrischer Hund an einer Leine zerrte .
    Und ich stellte mir vor, wie dein Vater an dieser Stelle stand und hinausschaute, auf eine Wand, die er kannte, eine Straße, die üblichen Leute, das normale Geschehen .
    Und dann hörte er das Schlagen der Glocken aus der nahen Josephskirche und wusste plötzlich, dass es keinen Sinn hatte weiterzumachen, dass der Aufwand sich nicht mehr lohnte und nie gelohnt hatte, dass die Zeit der Täuschung erlosch, dass alles, was er sich eingebildet hatte, Jahr um Jahr, vielleicht schon als Kind, spätestens als junger Mann, während er zum ersten Mal eine Farbe selber mischte und dann sein erstes ungeheuer expressionistisches Bild auf die Leinwand warf, nichts wert war .
    Dass ihn seine Illusionen nicht mehr retteten, dass nicht einmal der Alkohol mehr eine Funktion hatte und die Nüchternheit ein Alptraum war.
    In meiner Vorstellung stand er dicht an der kalten Scheibe, hauchte diese an, trat einen Schritt zurück und sah einen grauen runden Fleck, der sich windschnell auflöste. Wie seine Existenz. Und atemlos raffte er sein Zeug zusammen, schmiss es wie Gerümpel in die Badewanne, stopfte, was sonst noch überflüssig geworden war, in einen Müllsack, spülte vielleicht das Geschirr ab und verschwand. Den Müllsack warf er in den Container, und als er den schweren Metalldeckel nach unten zog, hatte er den Eindruck, über ihm selbst
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