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Süden und die Frau mit dem harten Kleid

Süden und die Frau mit dem harten Kleid

Titel: Süden und die Frau mit dem harten Kleid
Autoren: Friedrich Ani
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handgreiflich werden, uns ohrfeigen oder den Kochlöffel holen würde. Es war, als hätten wir abgesprochen, was passieren sollte, wir drei, Johann, ich und unsere Mutter, als hätten wir uns auf eine Strategie geeinigt, nach der wir vorgehen wollten, und jeder hielt sich daran. Eisern. Widerspruchslos. Jahrelang. Jahrelang dieselbe Strategie, derselbe Kampf, dieselbe Entscheidung. Nein. Nein.«
    Außer uns saß kein Gast mehr in dem italienischen Restaurant, sie hatten durchgehend geöffnet, aber niemand kam zum Kaffeetrinken. Wenn der Kuchen ähnlich schmeckte wie die Pasta, dann war klar, wieso .
    Ich hatte trotzdem aufgegessen, wie Mathilda, nur Sonja ließ den halbvollen Teller Rigatoni und die Schüssel mit den Resten des gemischten Salats zurückgehen und beantwortete die Frage des Kellners, ob es geschmeckt habe, mit einem klaren Nein. Offenbar genügte ihr Blick, um den jungen Mann von weiteren Bemerkungen abzuhalten.
    »Nein«, sagte Mathilda noch einmal. »Wir sind nicht eisern gewesen und auch nicht widerspruchslos. Zumindest Johann und ich. Unsere Mutter prügelte weiter, aber ich ertrug ihre Schläge nicht länger, ich wollte anfangen, mich zu wehren, ich wollte die Strategie durchbrechen, ich wollte nicht mehr mitspielen. Kann ich noch ein Bier bekommen, bitte?«
    Ich rief den Kellner.
    »Es kostete mich große Überwindung, mit meinem Vater zu sprechen. Denn ich hab gewusst, dass Johann dagegen war, total dagegen. Aber ich konnte nicht mehr, ich hab diese Frau nicht mehr ertragen, die meine Mutter war, nicht nur ihre Schläge, die weniger wurden mit den Jahren; inzwischen waren wir größer als sie, wir waren dreizehn, vierzehn Jahre alt, wir hätten leicht zurückschlagen können. Das taten wir nicht, stattdessen ertrugen wir ihre Launen, ihren Terror, ihre Unfähigkeit, uns mit Worten und Gedanken zu erziehen. Sie erteilte Befehle, das war alles, was sie konnte, und Johann fügte sich noch immer. Er hat noch immer den braven Jungen gespielt, er spielte das Spiel weiter, weiter, und ich musste zusehen, wie er gelitten hat. Das hätte er nie zugegeben, nicht einmal mir gegenüber. Und ich war der einzige Mensch, dem er sonst seine Gedanken anvertraute. Und der Einzige, dem er seine Bilder zeigte. Johann hat früh angefangen zu zeichnen, heimlich, in der Volksschule schon.«
    Sie trank. Für Sekunden klebte Schaum an ihren Lippen, und als sie ihn hastig und wie verschämt ableckte, sah ich ein zehnjähriges Mädchen vor mir, das auf einem Schulhof steht und gerade einen Becher Milch leer getrunken hat, den Becher, den ihr Bruder nicht mochte, weil seine Mutter ihn in die Schultasche gepackt hatte .
    »Mindestens dreimal im Jahr wurde Johann krank«, sagte Mathilda. »Bekam Fieber und lag eine Woche lang im Bett, hatte Alpträume und Magenkrämpfe und schwitzte fürchterlich. Natürlich hat er sich irgendwo angesteckt, aber ich weiß, dass nicht Bazillen dran schuld waren .
    Nein. Sondern der Zorn, der in ihm steckte und den er nicht rausließ, diese Wut, die ihn zwang, schon mit zwölf Bier zu trinken und Zigaretten zu rauchen, nach außen wirkte er nett und gehorsam, in seinem Innern tobte eine einzige Revolte. Und wegen dieser Revolte, die er so gewaltsam unterdrückte und die ihn krank machte und die mich krank machte, denn ich konnte nicht mehr mit ansehen, wie er sich von unserer Mutter bevormunden und misshandeln ließ – nicht körperlich, damit war inzwischen Schluss, seelisch misshandeln –, deshalb also bin ich an einem Tag im November, so wie heute, ja, so ein grauer kalter Tag wie heut war es, da bin ich zu meinem Vater in die Praxis gegangen und hab … und hab …« Sie kratzte sich am Hinterkopf, mit vier Fingernägeln ihrer rechten Hand, kratzte und scheuerte, und das Geräusch schien in ihren Ohren ebenso unerträglich zu klingen wie in denen von Sonja und mir. Auf eine fast lächerliche Art kniffen wir alle drei die Augen zusammen, in der Hoffnung, das hysterische Scharren möge aufhören.
    Als koste sie die Geste einen Kraftaufwand, ließ sie mit einem Stöhnen von ihrem Kopf ab und schloss die Augen. Wie um sich zu entspannen .
    Dann riss sie die Augen auf und starrte mich an. »Und ich hab ihm gesagt, wenn er nicht was unternimmt, bring ich sie um! Mehr hab ich nicht gesagt. Nur diesen einen Satz .
    Und er hat sofort verstanden. Wahrscheinlich erkannte er sich selbst in meinem Auftreten. Ich stand da und sagte nur diesen einen Satz. Und er kam auf mich zu, sah mich lange und
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