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Süden und das verkehrte Kind

Süden und das verkehrte Kind

Titel: Süden und das verkehrte Kind
Autoren: Friedrich Ani
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ich hab mir gedacht, du machst eh die Nacht durch.«
    Paul Weber war neunundfünfzig und der älteste meiner Kollegen, er war kein so enger Freund wie Martin, aber einer, mit dem ich schon viele Schweigen geteilt und der vor mir seine Trauer nicht versteckt hatte, als seine Frau, mit der er siebenundzwanzig Jahre verheiratet war, an Krebs starb. Nach meinem Wechsel in die Vermisstenstelle war er es gewesen, der mich eingearbeitet und mich gelehrt hatte, bei Vernehmungen und Befragungen nie die Geduld zu verlieren. Und bis zu diesem April hatte ich seine Ratschläge gut befolgt.
    »Gib mir bitte seine Nummer«, sagte ich.
    Ich schrieb sie auf meinen kleinen karierten Spiralblock, den ich immer in der Hemdtasche trug.
    »Sonja will dich sprechen«, sagte Weber.
    Sofort erhellte ihre Stimme meinen Gedankentunnel.
    »Keine Hinweise, bei niemandem«, sagte Sonja Feyerabend, mit der ich seit einiger Zeit in Hautnähe lebte, wenn auch in getrennten Wohnungen. »Ich hab mit den Großeltern gesprochen, mit Ilona Karge, die ich für morgen einbestellt hab, mit einer anderen Mutter, deren Tochter im selben Kindergarten wie Nastassja war, mit einer Ärztin, Dr. Scott, die auch morgen ins Dezernat kommt, mit drei weiteren Müttern, deren Kinder mit Nastassja befreundet oder zumindest bekannt sind, die sagen alle, sie haben keine Erklärung.«
    »Und ihre Vermutungen?«
    »Moment.« Ich hörte sie trinken und das Klacken eines Löffels in der Tasse. »Der Darjeeling hält mich wach, besser als Kaffee. Wenn Erika noch einmal diese Billigplörre kauft, kriegt sie Ärger mit mir, das Leben ist zu anstrengend für dünnen Kaffee.«
    So einen Spruch hatte ich von ihr noch nie gehört, sie neigte nicht zu Sprüchen. Wahrscheinlich war sie stark übermüdet, was nicht nur an der Vermissung der kleinen Nastassja gelegen haben dürfte. Die vergangene Nacht war wie so viele Nächte davor voll verlangender Hände und unerhörter Münder gewesen, und unsere Augen hatten jede halbe Stunde ein traumfernes Schaukonzert angestimmt.
    »Eine der Mütter sagte, Nastassja habe sich nicht besonders mit ihrem Vater verstanden.«
    Ich sagte: »Das habe ich auch gehört. Hast du Andeutungen auf Missbrauch herausgehört?«
    »Nein«, sagte sie.
    »Bist du sicher?«
    »Nein«, sagte sie.
    »Was ist für morgen geplant?«
    »Thon hat eine BAO eingerichtet, die im Wesentlichen aus fünf Kollegen besteht, also aus uns, die wir Dienst haben. Verdacht auf Entführung. Die Hundeführer sind informiert, den Hubschrauber haben wir angefordert, er startet um sechs, Volker will die Leute in der Nacht nicht aufschrecken. Wenn das Mädchen nicht auftaucht, stellt er morgen Vormittag eine Sonderkommission zusammen, wir fangen mit zwanzig Kollegen an, dann schauen wir, ob wir die Arbeit schaffen. Was ist deine Vermutung?«
    Ich sagte: »Ich rede mir ein, dass das Mädchen nur weggelaufen ist und sich irgendwo versteckt hält. Aber das Verhalten der Mutter und des Jungen ist merkwürdig, sie trinkt, er murrt vor sich hin.«
    »Bleibst du über Nacht dort?«
    »Vielleicht.«
    »Wie gehts Martin?«
    »Nicht gut.«
    »Sprich mit ihm!«, sagte sie.
    »Das will er nicht.«
    »Was ist los mit ihm?«
    Jemand schlug mit der flachen Hand aufs Autodach. Ich hatte ihn nicht näher kommen sehen.
    »Die Geliebte?«, fragte Martin.
    »Ja«, sagte ich.
    »Lass uns wieder reingehen.«
    »Bis später«, sagte ich zu Sonja. »Ich will noch jemanden anrufen«, sagte ich zu Martin und tippte eine neue Nummer. »Einen Freund des Vaters.«
    »Dann geh ich rein.«
    Er entfernte sich, geduckt, ein dürrer Schatten in der Dunkelheit.
    »Tabor Süden, Kriminalpolizei«, sagte ich in den Hörer. Eine verschlafene Stimme gab ein Krächzen von sich.
    »Sind Sie Hartmut Belut?«
    »Was ist? Wer sind Sie?«, sagte die erledigte Stimme.
    »Tabor Süden, Kriminalpolizei.«
    »Polizei? Okay.« Nach einer Pause hustete der Mann, röchelte, trank offenbar einen Schluck. »Ich bin erst morgen Früh bestellt. Was ist denn?«
    »Entschuldigen Sie, dass ich Sie aufgeweckt habe. Sie haben meinem Kollegen gesagt, Torsten Kolb und seine Tochter würden sich oft streiten. Worum geht es bei diesen Streitereien?«
    Eine Zeit lang hörte ich nur einen rasselnden Atem.
    »Die verstehen sich nicht«, sagte Belut und hustete wieder.
    »Ja«, sagte ich. »Warum verstehen sie sich nicht?«
    »Keine Ahnung. Weil der Torsten… Passen Sie auf, ich sag morgen Früh aus, ich versprechs, ich bin pünktlich da. Ich will jetzt
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