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Süden und das verkehrte Kind

Süden und das verkehrte Kind

Titel: Süden und das verkehrte Kind
Autoren: Friedrich Ani
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Martin.
    »Nein.«
    »Dann mach ich ein Kreuz bei ›familiäre Zwistigkeiten‹.«
    »Ja«, sagte sie. »Machen Sie das Kreuz da. Stimmt ja auch irgendwie.«
    Die Punkte »Vermutlicher Unglücksfall/Opfer einer Straftat« und »Freitodabsicht« hatte Martin nicht erwähnt, obwohl er ein Verbrechen ebenso für möglich hielt wie ich. Einen Selbstmord schlossen wir aus.
    Seit mehr als einer Stunde befanden wir uns in der Wohnung, ohne auf einen Hinweis auf den Verbleib des Mädchens gestoßen zu sein. Als Erstes hatten wir den Keller und einen Schuppen hinter dem Haus durchsucht, bei den unmittelbaren Nachbarn geklingelt und danach versucht, mit dem Jungen ins Gespräch zu kommen. Doch er verweigerte sich, alles, was er sagte, wussten wir bereits: Dass er seine Schwester vom Fenster aus die abschüssige Straße hinuntergehen sah, anschließend habe er mit Freunden auf einer nahen Wiese Fußball gespielt, und seine Schwester sei nicht mehr aufgetaucht.
    »Wann haben Sie das Haus verlassen?«, hatte ich Medy Kolb gefragt.
    »Gegen acht.«
    »Sie haben Ihre Tochter nicht eher vermisst?«
    »Ich hab gedacht, sie ist bei den Karges.«
    »Wer ist das?«
    »Das sind Bekannte, sie wohnen ein paar Häuser weiter. Die Angela Karge und Nastassja sind gleich alt, sie stecken die ganze Zeit zusammen, ich hab gedacht, sie ist dort. Die Angela hat ein… so ein Holzpferd, so ein… eines, das innen hohl ist…«
    »Ein Trojanisches Pferd.«
    »Ja, das ist mir jetzt nicht mehr eingefallen, ich… Ist mir nicht mehr eingefallen!« Wieder hatte sich ihre Stimme gehoben. »Die spielen darin Verstecken, die klettern da rein, das ist ein großes Pferd, wie ein Haus.«
    »Haben Sie bei den Karges angerufen?«
    »Ja.«
    »Wann?«
    »Gegen acht. Als das Essen fertig war.«
    »Mit wem haben Sie gesprochen?«
    »Mit Ilona, Angelas Mutter. Und sie hat mir gesagt, Nastassja war gar nicht da. Obwohl sie mit Angela verabredet gewesen ist.«
    »Wieso ist sie dann nicht hingegangen?«
    »Bitte?«
    »Vorher, früher am Tag.«
    »Ich hab… ich habs ihr verboten.«
    »Warum?«
    »Sie war ungezogen.«
    Konkretere Aussagen machte sie vorerst nicht, und wir wollten sie nicht drängen. Sie verließ dann das Haus und fuhr mit dem Auto die umliegenden Straßen ab. Fabian blieb zu Hause, allein, zwei Stunden lang. Was er in dieser Zeit getan hatte, wollte er uns nicht verraten, sein einziger Kommentar lautete: »Hab Englisch gelernt.« Er besuchte die zweite Klasse des Gymnasiums.
    Martin Heuer notierte die Namen der Straßen, in denen Medy Kolb nach ihrer Tochter Ausschau gehalten hatte.
    »Haben Sie nicht versucht, Ihren Mann zu verständigen?«, sagte ich.
    Mit einem Ausdruck von Überraschung sah sie mich an, als habe sie vergessen, dass ich mich ebenfalls im Raum befand.
    »Nein. Wozu denn? Nein. Er wohnt zurzeit nicht hier…« Sie wollte sich zurücklehnen, hielt aber in der Bewegung inne und beugte sich wieder vor, die Hände auf den Knien, mit verkrampften Fingern.
    »Ja«, sagte ich. Bereits bei der Begrüßung hatte sie uns erklärt, sie lebe mit ihren Kindern allein. »Trotzdem hätten Sie ihn um Rat fragen können.«
    »Um Rat?« Sie versank in einer Abwesenheit, die sogar ihr Sohn bemerkte und ihn die Augen zusammenkneifen ließ. Medy hörte auf, die Finger zu krümmen, und strich sich stattdessen mit einer Hand über die andere, ihre Gesichtszüge wurden weich, und wenn mich der Eindruck nicht täuschte, gelang ihr ein schnelles, unauffälliges, angestrengtes Lächeln. Fabian war von ihrem Verhalten, das er sich offensichtlich nicht erklären konnte, so irritiert, dass er die Beine streckte, auf seine klobige Uhr mit dem Silberarmband schaute und Anstalten machte aufzustehen. Im selben Moment stand seine Mutter auf. Und Fabian lehnte sich zurück, zog die Beine an den Körper und umklammerte die Knie.
    »Bitte konzentrieren Sie sich!«, sagte Martin, dessen rechte Hand leicht zitterte, vielleicht vom Schreiben , vielleicht vom Verlangen nach Bier und Zigaretten. Seit Tagen wich die graue Müdigkeit nicht aus seinem Gesicht, seine Tränensäcke wölbten sich unter den Augen, bläuliche Adern durchzogen die rissige Haut seiner geröteten Knollennase, und die wenigen Haare klebten zu einem struppigen Nest geformt auf seinem Kopf. Die graue Filzjacke, die er außer im Winter das ganze Jahr über trug, hing unförmig an seinem dürren Körper wie an einer falschen Garderobe, seine Erscheinung war die eines Mannes, der zwischen Ruinen existierte,
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