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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit
Autoren: Link Charlotte
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August 1916 in Galizien. Leopold Domberg, gestorben 1916 in Frankreich.« Hier war Onkel Victor, dem Bewahrer deutscher Ehre, vor Wut die Feder ausgerutscht; stellten doch Leo und sein Desertionsversuch den Schandfleck der Familie dar.
    »Johanna Isabelle von Bergstrom, gestorben im November 1917 in Estland auf der Flucht vor den Bolschewisten.« Dies zu erwähnen war Victor ein Herzensbedürfnis gewesen. Selbst Benjamin hatte Aufnahme ins heilige Buch gefunden:
    »Benjamin Lavergne, Ehemann der Felicia Lavergne, geborene Degnelly, geschiedene Lombard, am 23. April 1927 im Freitod gestorben.«
    Sowohl Freitod als auch Scheidung galten als Schande, und Victor hatte lange mit sich gerungen, ob er diese Peinlichkeiten erwähnen sollte, sich schließlich aber dafür entschieden, weil er so Felicia immerhin eins auswischen konnte. Felicia aber sah längst nicht mehr die vergilbten Seiten, die schwarze Tinte, war nicht im mindesten angerührt von Victors Bosheit. Sie schaute über die Jahre zurück - hin zu der Zeit, als die Toten noch lebten, und in ihrer Erinnerung zogen sie in einem langen Reigen auf: Christian, fast noch ein Kind, über dessen Tod sie nie hinwegkommen würde. Ihr Vater, das Bild desbrütendheißen Nachmittages in der Bukowina, sein Blick, mit dem er sie angesehen hatte, ehe er starb.
    Leo mit seiner Papierrose am Revers, mit seiner Lebensgier, seinem Hang zur Sentimentalität, seiner unstillbaren Genußsucht. Tante Belle erstand vor ihren Augen, verzog den schönen Mund zu einem Lachen und wirbelte auf gefährlich hohen Absätzen durch den kerzengeschmückten Ballsaal des Winterpalastes in Petrograd. Und Benjamin schließlich, der gute Benjamin!
    Was hatte Laetitia gesagt? Ein Vogel, der niemals fliegen gelernt hat... Und an ihre eigenen Worte erinnerte sie sich: »Ich muß jetzt damit leben.«
    »Es gibt sie nie wieder«, wiederholte Elsa flüsternd. Felicia legte den Arm um ihre Schultern. »Nicht weinen«, bat sie, »bitte nicht weinen. Du darfst nicht hinsehen!«
    Aber sie selber sah hin in diesem Moment, und sie begriff, daß die Toten keine Tränen verlangten, sondern den Einsatz für eine bessere Zukunft derer, die nach ihnen kamen. Mit geschärftem Blick sah sich Felicia im Raum um, und der Spott, mit dem sie Onkel Victor bisher bedacht hatte, mischte sich mit Furcht. Von dort, von Männern wie ihm kam die Gefahr. Sie war nie eine sehr fürsorgliche Mutter gewesen, aber immer bereit, ihre Kinder gegen jede Gefahr zu verteidigen, und nun kam ihr zu Bewußtsein, daß sie alle, alle hier versammelten Erwachsenen die Verantwortung dafür trugen, daß niemand Sicherheit und Leben ihrer Kinder aufs Spiel setzte. Der Klang zart aneinanderklirrender Gläser weckte sie aus ihren Gedanken.
    Laetitia stand hinter ihr, ein silbernes Tablett mit gefüllten Gläsern in den Händen. »Diesen besonderen Tag beginnen wir mit Champagner!«
    Sie griff nach einem Glas. Elsa erhob sich. Das Stimmengewirr ebbte ab, sogar die Kinder hielten inne und sahen sich verwundert an. Victor räusperte sich, aber ehe er mit einer seiner gefürchteten, schwülstigen Reden beginnen konnte, hatte seine Mutter schon das Wort ergriffen. »Schöne Worte wurden genug gesprochen in der letzten Nacht«, sagte sie mit feinem, aber unnachgiebigem Lächeln, »laßt uns jetzt einfach auf das neue Jahr trinken. Und auf das neue Jahrzehnt, von dem wir nicht wissen, was es bringen wird, das wir aber immerhin hier auf unserem Lulinn beginnen, und das ist mehr, als wir oft in der Vergangenheit hoffen konnten. Wir haben den Weltkrieg überlebt, die Revolution, die Inflation und mit Ach und Krach auch den Wallstreet Crash. Wir schaffen es auch weiter, und darauf...« Sie hob ihr Glas. Elsa, die ihren Blick nicht vom Familienbuch lösen konnte, fügte hastig hinzu: »Wir sollten auch auf unsere Toten trinken.«
    Die Mienen der anderen nahmen einen betroffenen Ausdruck an. Mit einem Schlag war es, als habe der strahlende Morgen an Glanz verloren. Felicia wußte, daß sie Elsa weh tat, wenn sie ihr das letzte Wort, dieses letzte Wort nahm, aber sie wußte auch, daß sie ihr weh tun mußte, weil heilende Wunden immer schmerzen.
    Noch einmal lächelten die Toten ihr zu; mit ihrem charakteristisch irdischen Sinn aber sah sie vor allem das Bild Alex Lombards, der ihr lachend zurief: »Lulinn von Lombards Gnaden, vergiß es nicht!« Und insgeheim trank sie ihm zu, verbunden mit dem grimmigen Versprechen, es nie zu vergessen, bis zu dem Tag, an dem sie
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