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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit
Autoren: Link Charlotte
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gleichen Grund entgegnete Alex: »Ja.Vielleicht nach Südamerika zunächst. Ich könnte mich mit dem Gedanken an eine Kaffeeplantage befreunden, und mit dem eines guten Lebens in einem weißen Säulenhaus.«
    Draußen schneite es noch immer. Die Dunkelheit war längst hereingebrochen. Schweigend lagen sie nebeneinander im Bett, rauchten ihre Zigaretten und sahen den grauen Qualmschleiern nach, die davonschwebten und sich in der Dunkelheit verloren.

    Der Morgen war klar und leuchtend. Ein goldfarbenes Licht war am Horizont erwacht, hatte sich langsam über den Himmel gebreitet, ehe es den dicken, harschen Schnee berührte und sich mit kristallenem Funkeln in ihm fing. Auf Lulinn begann der Tag.
    Es war der erste Januar 1930, der Anfang eines neuen Jahres und eines neuen Jahrzehnts. Das vergangene Jahr hatte sich mit dem großen Börsenkrach verabschiedet, das beginnende stand im Zeichen einer weltweiten Wirtschaftskrise, aber die Menschen hofften darauf, daß es nicht zu schlimm kommen werde. Nur in seltenen Fällen von dunklen Vorahnungen geplagt, sagten sie: »Wartet nur, in zehn Jahren sieht schon alles wieder ganz rosig aus, und wir wissen nichts mehr von all dem Ärger.«
    Felicia trat auf die rückwärtige Veranda hinaus, von der irgendein dienstbarer Geist den Schnee entfernt hatte. Sie stützte sich mit beiden Armen auf die steinerne Balustrade und betrachtete den schimmernden strahlenden Morgen, das Licht am Himmel, die Schneefelder, die Bäume mit ihren winterkahlen Ästen und den schwarzen Tannengürtel am Horizont. Wie immer auf Lulinn hatte sie das Gefühl, Salz in der Luft zu schmecken. Sie umarmte das Land mit den Augen, zärtlich und ohne Scheu, wie einen Geliebten. Dann, nach dieser sekundenlangen, wortlosen Begrüßung, wandte sie sich um und ging ins Haus zurück.Die ganze Familie war auf Lulinn. Modeste thronte neben ihrem Verlobten auf dem Sofa und erzählte einen Witz, dessen Pointe sie schon dreimal verpatzt hatte und der keinen Menschen interessierte. Linda lehnte in einer Ecke und hörte mit der Miene eines Opferlammes Tante Gertruds höchst durchschnittlichen Jugenderinnerungen zu. Nicola, die sich neuerdings mit der Frage herumschlug, ob Ehe und Schwangerschaft ihr bereits den ersten Schmelz der Jugend geraubt hatten, kokettierte vor dem Spiegel neben der Gartentür, während ihr Sergej alle damit nervte, daß er unbedingt wissen wollte, wie man den Neujahrstag zu verbringen gedächte.
    »Wenn ich jetzt in Berlin wäre...« sagte er immer wieder sehnsüchtig, und seine Miene ließ keinen Zweifel daran, daß er Lulinn und das Leben dort schrecklich provinziell fand. Onkel Victor platzte in das gemütliche frühmorgendliche Geplaudere mit ganz eigener Grazie; er trug das braune Hemd der SA und bewegte sich in zackigem Schritt. »Neujahrsversammlung der SA in Insterburg«, verkündete er mit Kommandostimme, »na, kann ich bei einem der jungen Herren hier Interesse wecken?«
    Sergej, der die Uniform der SA unelegant fand und es aus diesem Grund nie in Erwägung gezogen hätte, in ihren Reihen mitzumarschieren, wandte sich mit hochgezogenen Augenbrauen ab. Onkel Viktor erspähte Jo und schlug ihm kräftig auf die Schulter. »Nun, Neffe, was ist mit dir? Hast du nicht auch Lust, ein ganzer Mann zu sein?«
    »An dich reiche ich doch nie heran, Onkel Victor«, entgegnete Jo lächelnd, und Victor fragte sich mißtrauisch, ob da ein Anflug von Spott in der Stimme seines Neffen geklungen habe.
    »Onkel Victor, läufst du jetzt auch immer herum und singst affige Lieder?« erkundigte sich die elfjährige Belle. Victor fuhr herum, sah eine Wolke von dunkelbraunem Haar und blickte in die grauen, herausfordernden Augen der Frauen von Lulinn.
    »Felicia!« schrie er, »Felicia, ich verlange, daß sich deine Tochter dafür bei mir entschuldigt!«
    Felicia musterte ihn kalt. »Wieso denn? Sie hat doch ganz recht. Und es wäre nur gut, wenn es ein paar mehr Leute in Deutschland gäbe, die euch hin und wieder sagen würden, wie albern ihr euch aufführt!«
    Victor schnappte nach Luft, aber Felicia kümmerte sich nicht weiter um ihn, sondern trat an Elsa heran, die an dem Sekretär in der Ecke saß und im großen Familienbuch blätterte. Ihre Augen waren dunkel und bekümmert. »Ach, Felicia«, sagte sie leise,»solche wie sie wird es nie wieder geben.«
    Felicia blickte auf die aufgeschlagene Seite. »Christian Degnelly«, las sie, »gefallen am 20. März 1916 bei Verdun. Dr. Rudolf Degnelly, gefallen am 12.
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