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Sturmsegel

Sturmsegel

Titel: Sturmsegel
Autoren: Corina Bomann
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angeschlagen wurde, schickte ihren Klang weit über die Dächer der Stadt und ließ die Falken und Tauben verstummen. Sicher konnte man das Geläut auch ein Stück weit auf See hören, dort, wo die Fischer bereits mit ihrem Tagwerk begonnen hatten.
    Anneke und ihre Mutter gingen zu solch früher Stunde nie in die Kirche. Sie zogen den abendlichen Gottesdienst vor, wo die Menschenmenge so dicht war, dass sie nicht weiter auffielen und der Pastor ihnen keine strafenden Blicke zuwerfen konnte.
    Das tat er des Öfteren, und er hatte sogar einmal versucht, Johanna Thießen wegen Hexerei anzuklagen. Aber dieser Vorwurf war fallen gelassen worden, ganz plötzlich. Später munkelten die Leute, dass jemand ein gutes Wort für Annekes Mutter eingelegt hätte. Die argwöhnischen Blicke waren jedoch geblieben. Und obwohl sie es sich gegenüber ihrer Tochter nur selten anmerken ließ, lebte in Johanna noch immer die Angst, dass sie erneut vor den Rat gerufen werden konnte.
    Der Marktplatz vor dem Stralsunder Rathaus war an diesem Morgen zwar gut besucht, aber es fehlten einige Buden. Seit sich die Kaiserlichen in diesen Landen herumtrieben und Rostock vor den Truppen kapituliert hatte, traute sich so mancher fahrende Händler nicht mehr auf den Weg hierher. Das Gerücht, dass vor Kurzem zwei Händler von Landsknechten aufgespürt und totgeschlagen worden waren, machte die Runde. Außerdem fürchtete so mancher Reiter in Kampfhandlungen zu geraten. Es war schon schlimm genug, dass man jeden Tag damit rechnen musste, dass der Krieg einem alles nahm. Dem Unglück geradewegs entgegengehen wollte niemand.
    Auf dem Marktplatz versammelten sich nun vorrangig Bauern und Kaufleute aus der Umgebung. Nur wenige kamen aus Greifswald oder Strelitz und boten Stoffe und andere kleine Dinge feil. Da diese Waren ohnehin zu kostbar für Anneke waren, trat sie gleich an den Stand eines Bauern, den sie hier jede Woche sah. Auf seinem Karren, der unweit des Standes abgestellt war, türmten sich zahlreiche Käfige. In diesen grob aus Holz und Draht zusammengezimmerten Gebilden saßen Hühner. Meist mussten sich drei oder vier einen Käfig teilen, einige waren allein. Unter ihnen entdeckte Anneke ein paar stolze Hähne, die zwischendurch heiser krähten.
    »Guten Morgen, Mädchen, was darf es sein?«, fragte der Bauer freundlich. Er war sehr groß und kräftig und trug eine einfache Leinentracht, die mit einem Leibgurt zusammengehalten wurde. Die Stiefel an seinen Füßen hatte er offenbar gerade erst erworben, denn ihr Leder glänzte noch.
    »Ich hätte gern ein Huhn«, antwortete Anneke und deutete auf die Käfige. »Könntet Ihr ihm gleich den Kopf abschlagen? Meine Mutter ist krank und ich bringe es nicht über mich.«
    Der Bauer lachte auf. »Das lernst du noch! Was wärst du für eine Hausfrau, wenn du nicht mal einem Huhn den Hals umdrehen könntest! Aber du bist ja noch jung. Such eins aus, ich schlachte es.«
    Anneke trat vor die Hühnerkäfige. Manche Tiere hatten rotes Gefieder, manche weißes, einige von ihnen waren schwarz gesprenkelt. Sie blickten das Mädchen aus ihren orangefarbenen Augen an, als flehten sie um ihr Leben.
    Mitleid mit den Tieren überkam sie. Anneke brachte es plötzlich nicht mehr über sich, das Todesurteil für ein bestimmtes Huhn zu fällen.
    »Gebt mir bitte das da«, sagte sie und deutete auf eines der weißen Hühner. Es hatte vereinzelte schwarze Tupfen, als hätte jemand etwas Tinte auf die Federn gespritzt. »Aber lasst den Kopf lieber dran.«
    Der Bauer runzelte verwundert die Stirn. »Willst du es jetzt doch selbst versuchen?«
    Anneke verneinte und setzte hinzu: »Ich … ich werde es der Nachbarin bringen. Die rupft es und nimmt es auch gleich für mich aus.«
    Der Mann schüttelte verständnislos den Kopf. Aber er verkniff sich einen Kommentar. »Gut, wie du willst.«
    Damit griff er das Huhn und zog es an den Flügeln aus dem großen Käfig. Die Henne kreischte und hörte erst auf, als sich der Deckel eines kleineren Käfigs über ihr schloss.
    »Den Käfig bringst du mir aber wieder!«, setzte der Bauer hinzu.
    Anneke nickte. Das Huhn stieß ein wütendes Gackern aus und versuchte, die Flügel auszubreiten, was ihm aber nicht gelang.
    Nachdem sie bezahlt hatte, trug Anneke den Käfig über den Markt. Noch immer zeterte das Huhn.
    »Sei froh, dass ich dir nicht gleich den Kopf habe abschlagen lassen«, sagte das Mädchen, als ihr das heisere Gackern zu viel wurde. Sie hob den Käfig auf Augenhöhe und
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