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Sturmsegel

Sturmsegel

Titel: Sturmsegel
Autoren: Corina Bomann
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auf solch eine Nachricht reagieren würde. Es überraschte sie, dass sie in diesem Augenblick erstarrte, anstatt sich kreischend zu Boden zu werfen. Gewiss lag es daran, dass sie nicht glauben wollte, was sie da hörte.
    Sie war nicht mehr als eine Stunde weg gewesen! Ihre Mutter konnte doch in der kurzen Zeit nicht gestorben sein! Zumal ihre Wangen heute morgen, als sie nach ihr gesehen hatte, sogar einen rosigen Schein gehabt hatten. Oder hatte die Morgensonne ihrem müden Verstand etwas vorgegaukelt?
    »Ich will sie sehen!«, rief sie und wie von einer unsichtbaren Hand angestoßen stürmte sie mit dem Hühnerkäfig ins Haus. Vielleicht hat sich die Nachbarin getäuscht, dröhnte es durch ihren Verstand. Es war doch möglich, dass sie nicht richtig hingeschaut hatte.
    In der Schlafkammer angekommen stellte sie den Käfig neben der Tür ab und stürzte zum Bett. Ihre Mutter lag auf den schweißdurchnässten Kissen, ihr Haar klebte an ihrer Stirn und ihren Wangen. Da sie schon zuvor sehr blass gewesen war, wirkte sie, als würde sie nur schlafen. Einziges Zeichen, dass ihre Seele in den Himmel gefahren war, waren die fehlenden Atemzüge.
    »Mutter?«, fragte Anneke und fasste sie bei den Schultern. »Mutter, wach auf. Du kannst nicht sterben! Das darfst du einfach nicht.«
    Der Körper ihrer Mutter, obgleich noch beweglich, war ohne Leben, das wurde Anneke nach einigen Momenten schmerzhaft bewusst. Sie hob ihren Oberkörper ein wenig an und barg ihr Gesicht an der lauwarmen Wange und nun rollte eine Träne aus ihrem linken Auge.
    »Dein Herz weint, wenn die erste Träne aus dem linken Auge fällt«, hatte ihre Mutter immer gesagt. Jetzt weinte ihr Herz wirklich und der Schmerz war stärker als alles, was sie zuvor gefühlt hatte.
    Ihre Mutter erwachte nicht mehr. Anneke legte ihren Oberkörper wieder auf das Bett zurück.
    Erst jetzt merkte sie, dass Magda ihr gefolgt war.
    »Ich wollte nach ihr sehen«, erklärte sie. »Als sich auf meinen Ruf hin nichts rührte und ich sie auch nicht auf dem Hof fand, bin ich ins Haus gegangen …«
    Anneke strich über die bläulichen Lippen und die kalten Wangen der Toten. Die Traurigkeit wütete in ihrer Brust. Noch eine Stunde, ein Tag, ein Jahr, kam ihr der Gedanke vom Markt wieder in den Sinn. Warum hatte Gott ihr das nicht gewährt?
    »Ich gebe der Totenwäscherin Bescheid«, hörte sie Magda sagen, und obwohl sie dicht hinter ihr stand, hörte sich ihre Stimme an, als käme sie aus weiter Ferne. »Und ich bringe auch die anderen Frauen mit. Sie werden sich um sie kümmern.«
    Die Frau ging und Anneke sank neben dem Bett zu Boden. Das Gesicht ihrer Mutter verschwand hinter einem Tränenschleier.
    Während sie so dasaß und weinte, wurde alles um sie herum bedeutungslos. Sie hörte nicht einmal, dass ihre Nachbarin mit den anderen Frauen das Haus betrat.
    »Lass uns unsere Arbeit machen, Anneke.« Magda Fehrmann legte ihr die Hand auf die Schulter. Das Mädchen nickte und erhob sich dann, um vom Bett zurückzutreten.
    Die Totenfrau, die an ihr vorüberging, war ein altes, zahnloses Weib in schwarzen Kleidern. Sie würdigte Anneke keines Blickes, und darüber war diese auch froh, denn allein ihr Anblick und der seltsame Geruch, der sie umgab, ließen sie erschauern.
    Einige hielten sie für eine Hexe, andere meinten, dass sie, nachdem ihr Mann gestorben war, den Tod gefreit hätte, damit sie jene, die er holte, nicht gar so schrecklich aussehen ließ. Es hieß, dass die Totenfrau in der Lage war, jeglichen Schrecken, den der Gevatter auf dem Gesicht des Toten hinterlassen hatte, mildern oder verschwinden lassen könne. Gleichwohl war sie diejenige, die sicherstellen musste, dass die Seele den Leib verlassen hatte und nicht darin gefangen war.
    Mit einer langen Nadel pflegte sie in die Fußsohlen der Toten zu stechen, damit sie nicht aus Versehen lebendig ins Grab wanderten.
    Als Anneke das Metallstück aufblitzen sah, wandte sie sich ab. Sie konnte nicht zusehen. Unter den mitleidigen Blicken der anderen Frauen, die der Totenfrau gefolgt waren, rannte sie aus dem Haus und schließlich in Richtung Meer.
    Der Strand war mit angeschwemmtem Seetang und Muscheln bedeckt, die unter ihren Schuhen knirschten, als sie darüber schritt. Anneke fragte sich, ob sie es fühlen könnte, wenn sich die scharfkantigen Muschelschalen in ihre nackten Füße graben würden. Wahrscheinlich würde sie es gar nicht merken.
    An der Stelle, an der sie immer Marte traf, ließ sie sich in den Sand
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