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Sturmsegel

Sturmsegel

Titel: Sturmsegel
Autoren: Corina Bomann
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ruhig und legten einen warmen Schein auf die Gestalt, die auf dem Bett lag. Ihre Mutter trug ein weißes Hemd. Unter die starren Hände hatten die Frauen ihr ein Sträußlein Krokusse gelegt.
    Anneke wurde schlagartig klar, dass sie es nicht über sich bringen würde, in der Nacht neben dem Bett Wache zu halten. Ihre Mutter wirkte wie eine Puppe aus Wachs. Sie ansehen zu müssen, schnürte ihr die Kehle zu, sodass sie glaubte, ersticken zu müssen.
    Sie kehrte in die Küche zurück und streute der Henne ein paar Körner in den Käfig und stellte ihr eine Schale Wasser hin. Darauf schien diese nur gewartet zu haben, denn sie machte sich sogleich gierig darüber her.
    Anneke hockte sich daneben, und während sie beobachtete, wie Korn um Korn in dem gelben Schnabel verschwand, hoffte sie, dass die Seele ihrer Mutter noch irgendwo war und sie beschützte.
    *
    Lautes Gackern holte Anneke aus dem Schlaf. Sie musste neben dem Herd eingenickt sein. Der Geruch nach verkohltem Holz und Asche drang in ihre Nase und ließ den Schreck durch ihre Glieder fahren.
    Die Kerzen!
    Augenblicklich sprang sie auf und stürmte in die Schlafkammer ihrer Mutter. Glücklicherweise waren die Kerzen erloschen. Das flüssige Wachs hatte die Flammen erstickt und war auf den Boden getropft.
    Nachdem sie erleichtert aufgeatmet hatte, erfasste sie erneut Beklommenheit. Ihre Mutter hatte sich über Nacht verändert. Ihre Wangen waren eingefallen, ihre Augen in die Höhlen gesunken. Sie wirkte jetzt wie eine alte Frau. Von der Kunst der Totenfrau war nicht mehr viel zu sehen.
    Als sie sich dem Bett nähern wollte, wurden draußen Stimmen laut. Nur einen Atemzug später hämmerte jemand gegen die Tür.
    »Anneke, bist du da?«
    Das Mädchen lief zur Tür.
    Bei den morgendlichen Besuchern handelte es sich um den Tischler und die Sargträger. Sie trugen ihre besten Wamse und zogen sich die Hüte vom Kopf, als sie das Mädchen erblickten. Auf den ersten Blick hätte man sie für wohlhabende Bürger halten können, doch diese Männer gehörten den unehrlichen Berufsständen an. Sie arbeiteten als Ratsdiener, Gerber oder Schäfer. Eine alleinstehende und arme Frau wie ihre Mutter konnte nicht erwarten, von angesehenen Zunftleuten zu Grabe getragen zu werden.
    »Gelobt sei Jesus Christus«, sagte der Pastor, der mit dem Gebetbuch unterm Arm als Letzter durch die Gartenpforte trat. Anneke hätte eigentlich darauf ›In Ewigkeit, Amen‹ antworten sollen, aber ihre Augen blieben an dem Sarg hängen, den die Männer auf dem Weg abgestellt hatten. Es war eine einfache Kiste aus Fichtenbrettern. Das Holz roch, als sei es gerade erst zurechtgesägt worden.
    Anneke trat beiseite und ließ die Männer ihre Arbeit verrichten. Der Pastor wandte sich derweil an sie: »Es tut mir leid um deine Mutter, Anneke.«
    Tut es nicht, dachte sie, als sie ihn ansah. Er dachte wohl, seine Worte trösteten sie, und fuhr fort: »Aber sei gewiss, deine Mutter wandelt unter den goldenen Toren Jerusalems und sitzt zur Rechten Gottes.«
    Auch das meinte er nicht ehrlich. Nur allzu oft hatte der Pastor gegen Frauen, die in vermeintlicher Schande lebten und Bastarde gebaren, gewettert.
    Anneke zuckte zusammen, als die Sargträger in der Schlafkammer begannen, die Nägel ins Holz zu schlagen.
    Immerhin brachte das Hämmern den Pastor dazu, mit seiner nutzlosen Trostrede aufzuhören. Das Huhn im Käfig protestierte ein paar Mal gegen den Krach, verstummte dann aber und plusterte sich voller Unbehagen auf.
    Nachdem sie ihre Arbeit beendet hatten, trugen die Männer den Sarg aus dem Haus.
    Anneke war noch nie bei einem Begräbnis gewesen, aber sie wusste, dass auf dem Kirchhof bereits eine Grube wartete. Dieser Gedanke ließ sie aufschluchzen und nun konnte sie ihre Tränen nicht mehr halten. Weinend folgte sie den Männern und dem Pastor durch die Straßen.
    Es waren nicht viele Menschen, die sich dem Trauerzug anschlossen. Marte erschien mit ihrem Vater. Ihre Mutter war zu Hause geblieben, weil sie auf die kleinen Geschwister achtgeben musste. Außerdem kamen die Frauen, die bei ihrer Mutter die Totenwache gehalten hatten, und Magda Fehrmann.
    Am Kirchhof von St. Martin machte der Zug halt.
    Der massige Turm ragte so hoch in den Himmel, dass man glauben konnte, seine Spitze würde an den Wolken kratzen. Ja, es hieß gar, dass er das höchste Gebäude der Welt sei.
    Der Anblick übte immer eine gewisse Faszination auf Anneke aus, doch trösten konnte er sie in diesem Augenblick nicht.
    Auf
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