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Stunde der Vergeltung (German Edition)

Stunde der Vergeltung (German Edition)

Titel: Stunde der Vergeltung (German Edition)
Autoren: Shannon McKenna
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vermisste die kalte Taubheit, die sie vor Rachel verspürt hatte. Es war nervenaufreibend, unaufhörlich von seinen Emotionen hin und her geworfen zu werden wie ein Zweig von einer Sturzflut. Darauf war sie nicht gefasst gewesen, als sie das Kind zu sich genommen hatte. Der Impuls hatte sie vollkommen überrascht. In dem turbulenten Nachspiel, das auf das Organpiraten-Abenteuer gefolgt war, hatte sie nicht die Geistesgegenwart besessen, zu überlegen, was Rachel mit ihrem inneren Gleichgewicht anstellen würde.
    Nein, sie hatte gedacht, sie würde mit allem fertig werden. Immerhin hatte sie sich bis dahin ganz gut geschlagen, war immer unter dem Radar geflogen, hatte mit ihrem Unternehmen verdient, brav ihre Steuern bezahlt, sich mit niemandem angelegt. Ihre derzeitige Identität hielt stand, und das sogar trotz des Drucks der langwierigen Adoptionsabwicklung, was ein Beleg für ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten war. Nach Beendigung ihrer höchst ereignisreichen früheren Karriere hatte sie sich ein wenig gelangweilt, das ja, aber der Kampf mit den Organpiraten hatte dem Abhilfe verschafft. Dieser Nervenkitzel hätte sie eigentlich eine Weile bei Laune halten sollen.
    Doch dann kam Rachel. So viel zum Thema Abenteuer. Haha. Adieu, Langeweile. Jetzt hatte sie nicht mehr die Zeit, sich zu langweilen. Ihr rauchte der Kopf von der Anstrengung, die Übersicht zu behalten. Sie war erschlagen von der Größe der Verantwortung, dem langatmigen Behördenkram, der mit einer internationalen Adoption einherging, all den Terminen, der speziellen Nahrung, den Allergien, Nickerchen, Krankheiten, Medikamenten, Bädern und Tobsuchtsanfällen. Den Ängsten.
    Dennoch konnte sie sich ein Leben ohne Rachel inzwischen nicht mehr vorstellen.
    Das Wunder hatte sich blitzschnell vollzogen. Und klammheimlich. Dieses kleine Äffchen von einem Mädchen hatte die Arme um Tams Hals geschlungen und sich verzweifelt an ihr festgeklammert, und die Stelle, an der theoretisch ihr Herz sitzen müsste, war ohne jede Vorwarnung warm und weich geworden. Etwas in ihr hatte sich verändert, war angeschwollen und aufgeplatzt. Das Kind hatte sie schlichtweg im Sturm erobert. Diese großen, leuchtenden braunen Augen, die so viel Ähnlichkeit hatten mit denen der kleinen Irina … Oh nein. Nein. Tu das nicht .
    Heiße Tränen strömten ihr übers Gesicht. Ihre Brust wurde von heftigen Schluchzern geschüttelt, bis sie ein einziges leises, anhaltendes Beben zu sein schienen.
    Gott, wie sie es hasste, zu weinen. Sanft löste sie sich aus Rachels Umklammerung, dann ließ sie sich aus dem Bett und auf den hellen Bambusboden gleiten.
    Verdammt. Sie wollte nicht, dass Rachel aufwachte und sie so sah. Reiß dich zusammen, Tamar . Das Kind hatte sowieso schon allen Grund, sich unsicher zu fühlen, auch ohne dass seine Mama einen Nervenzusammenbruch erlitt.
    Tamar . Ohne es zu merken, hatte sie den Namen ihrer Kindheit benutzt. Und diese ernste innere Stimme hatte so sehr nach ihrer Mutter geklungen. Wie merkwürdig. Tam musste den Verstand verloren haben, als Alias einen Namen zu wählen, der ihrem echten so ähnlich war. Ein suizidaler Impuls? Nostalgie? Oder einfach nur das Bedürfnis nach ein wenig Wahrhaftigkeit? Um sich substanzieller zu fühlen.
    Eine strenge Anweisung. Aber sie schindete Zeit. Hoch mit dir, Tamar. Auf die Füße. Benimm dich wie eine Erwachsene. Es ist niemand hier, der dir das abnehmen könnte.
    Sie kämpfte sich auf die Beine, taumelte ins Bad und beugte sich über das große Marmorwaschbecken. Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht und blickte in den Spiegel – was sich als Fehler erwies. Der Anblick ihres hohlwangigen Gesichts, ihrer roten, starrenden Augen, ihres zitternden Mundes half kein bisschen. Aber wenn sie erst mal einen ihrer Weinkrämpfe bekam, gab es keinen anderen Weg als mitten hindurch. Sie lehnte sich wieder über das Becken, schöpfte Wasser mit den Händen und trank. Sie wusch sich das Gesicht, spülte Tränen und Rotz weg.
    Sobald sie fertig war, beschlossen ihre Beine, dass sie für den Moment nicht mehr benötigt wurden. Tam presste den Rücken gegen die Wand und rutschte kraftlos nach unten. Sie landete mit dem Po auf dem eiskalten Fliesenboden.
    Tam rollte sich zu einem zitternden Bündel zusammen. Vor Rachel hatte sie jahrelang nicht geweint. Bestimmt eine ganze Dekade nicht mehr. Hatte es auch nicht vermisst.
    Sie presste die Handballen auf die Augen, bis sie wehtaten. Arme Rachel. Angesichts der Tatsache, wer und was
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