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Stimmen der Angst

Stimmen der Angst

Titel: Stimmen der Angst
Autoren: Dean R. Koontz
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jedoch auf den Nachmittag verschoben. Das gemeinsame Haus war weitgehend frei von Hundehaaren, und so sollte es, wenn es nach Martie ging, auch bleiben.
    »Ich erwarte von dir«, sagte sie zu Valet, wie um ihn daran zu erinnern, »dass du nicht haarst, solange du nicht die ausdrückliche Erlaubnis dazu hast. Und vergiss nicht … nur weil niemand da ist, der dich auf frischer Tat ertappen könnte, heißt das noch lange nicht, dass du plötzlich nach Belieben über die Möbel verfügen oder dich über den Kühlschrank hermachen kannst.«
    Valet verdrehte die Augen, als wollte er sich über ihren Mangel an Vertrauen beklagen. Dann wandte er sich wieder seinem Trinknapf zu.
    In dem kleinen Toilettenraum, der an die Küche grenzte, schaltete Martie das Licht ein, um ihr Make-up zu überprüfen und die vom Wind zerzausten Haare zu bürsten.
    Sobald sie ans Waschbecken trat, war mit einem Schlag die Angst wieder da, und ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Diesmal war es nicht die Gewissheit, dass hinter ihr eine tödliche Gefahr lauerte, sondern sie hatte allein Angst davor, in den Spiegel zu blicken.
    Von einer plötzlichen Schwäche übermannt, beugte sie sich mit hängenden Schultern über das Waschbecken. Ihr war zumute, als hätte man ihr einen tonnenschweren Sack auf den Rücken geladen. Mit beiden Händen auf den Waschbeckenrand gestützt, starrte sie in die leere Schüssel. Die irrationale Angst lastete dermaßen auf ihr, dass sie sich physisch außerstande sah, den Blick zu heben.
    Ein einzelnes schwarzes Haar – eines von ihr, wie sie feststellte – hob sich von der Rundung des weißen Porzellans ab und kräuselte sich unter dem offen stehenden Messingstöpsel. Selbst dieses dünne Fädchen hatte etwas Bedrohliches an sich. Weil sie es nicht wagte, den Blick zu heben, tastete sie blind nach einem der Hähne, drehte das heiße Wasser auf und spülte das Haar in den Ausguss.
    Dann ließ sie das Wasser noch eine Weile laufen und atmete den aufsteigenden Dampf ein, aber auch das konnte die Kälte nicht vertreiben, die wieder von ihr Besitz ergriffen hatte. Das Porzellan erwärmte sich allmählich unter ihren krampfhaft um den Beckenrand gekrallten Fingern, die Hände jedoch blieben eiskalt.
    Der Spiegel wartete. Martie gelang es nicht, ihn als ein bloßes unbelebtes Objekt, eine harmlose Glasplatte mit silberbeschichteter Rückseite, zu betrachten. Er wartete.
    Oder vielmehr wartete etwas im Innern des Spiegels darauf, Blickkontakt mit ihr herzustellen. Ein unsichtbares Wesen.
    Ohne den Kopf zu heben, warf sie einen verstohlenen Blick nach rechts und sah Valet, der in der Tür stand. Normalerweise hätte der fragende Ausdruck des Hundes sie zum Lachen gereizt; aber jetzt hätte sie sich zum Lachen zwingen müssen, und selbst dann wäre kein Gelächter, sondern höchstens ein verunglücktes Krächzen herausgekommen.
    Ohne Zweifel hatte sie Angst vor dem Spiegel, aber mehr noch fürchtete sie sich vor dem eigenen unbegreiflichen Verhalten, vor diesem Verlust jeglicher Selbstbeherrschung, der völlig untypisch für sie war.
    Der Wasserdampf bildete feine Tröpfchen auf ihrem Gesicht und setzte sich dumpf und erstickend in ihrer Kehle ab. Und das Rauschen und Gurgeln des fließenden Wassers klang mit einem Mal wie boshafte Stimmen, wie ein gehässiges Kichern.
    Martie drehte den Hahn zu. In der darauf folgenden Stille merkte sie, dass ihr Atem beängstigend schnell und stoßweise ging.
    Zuvor auf der Straße war es ihr gelungen, sich durch bewusstes, tiefes Durchatmen zu beruhigen und die Angst zu vertreiben; danach hatte ihr Schatten seine Bedrohung für sie verloren. Diesmal jedoch schien jeder Atemzug ihre Angst wie Sauerstoff eine Feuersbrunst nur noch stärker anzufachen.
    Sie wäre Hals über Kopf aus dem kleinen Raum geflohen, hatte aber nicht die Kraft dazu. Ihre Beine waren wie Gummi, und sie befürchtete zu stürzen und sich irgendwo den Kopf anzuschlagen, wenn sie sich nicht mehr am Waschbecken festhielte.
    In der Hoffnung, ihr Gleichgewicht durch schlichte Logik und Vernunft wiederzufinden, versuchte sie sich davon zu überzeugen, dass der Spiegel ihr nichts anhaben konnte. Er war kein lebendiges Wesen. Nur ein Ding. Ein unbelebtes Objekt. Nichts als ein Stück Glas, um Himmels willen.
    Nichts, was sie je in diesem Spiegel sehen würde, konnte eine Bedrohung für sie sein. Er war schließlich kein Fenster, hinter dem ein Wahnsinniger stehen und sie mit irrem Grinsen und Mordgier im Blick belauern
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