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Stimme aus der Unterwelt

Stimme aus der Unterwelt

Titel: Stimme aus der Unterwelt
Autoren: Stefan Wolf
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ich.“ Klößchen grinste und sah
auf die Uhr. „Etwa für eine Viertelstunde. Denn dann sind wir da.“
    Gaby hob den Ellbogen und knuffte ihn
in die Rippen. „Manchmal könnte man glauben, du hättest Schokolade im Gehirn.
Wie weit ist es von Bad Fäßliftl bis zu deinem Onkel?“
    „Eine gute halbe Stunde mit dem Wagen,
sagte er am Telefon. Er erwartet mich im Gasthaus ,Zur Traube’. Das sei
gegenüber der Bahnstation.“
    „Wahrscheinlich fällt er in Ohnmacht“,
meinte Karl, „wenn er statt Willi ein ganzes Quartett sieht. Alte Leute darf
man nicht erschrecken. Was machen wir?“
    Während Karl, Klößchen und Gaby über
die richtige Taktik berieten, beobachtete Tim weiter die Blinde.
    Sie hatte beim Kellner bezahlt, wobei
sie die Größe der Geldscheine abtastete und mit scheuem Lächeln scheinbar ins
Nichts blickte.
    Jetzt stand sie auf. Mit dem
Blindenstock als Fühler stakte sie an der Küche vorbei in den vorderen Teil des
Zuges, der ganz der Ersten Klasse vorbehalten war.
    Karl hat recht, dachte Tim, wir haben
unsere eigenen Probleme. Soll sie. Vielleicht ist sie Schauspielerin und übt.
    „...werde ich euch natürlich gleich als
meine Freunde vorstellen“, sagte Klößchen, „dann sehen wir weiter.“
    „Vielleicht wäre es ratsam“, meinte
Karl lachend, „einzeln in der ,Traube’ aufzutauchen. Nicht gleich als geballte
Menge.“ Nur noch wenige Minuten, stellte Tim fest, als er zur Uhr sah.
    Warum, dachte er, bin ich so unruhig?
Vielleicht gehe ich ihr doch ein Stück nach.
    „Ihr könnt schon die Sachen holen.
Karl, bringst du meine Tasche mit? Ich“, er senkte die Stimme, „seh mal nach
der Blinden.“

2. Verbrechen im Alpen-Express
     
    Der Alpen-Express verringerte sein
Tempo. Keine Minute mehr — und Susi Welmhoff mußte aussteigen.
    Sie rückte an ihrer dunkelgetönten
Brille und streckte die Hand mit dem weißen Blindenstock aus.
    Leere Abteile, als sie den Gang entlang
ging. Niemand sah sie. Trotzdem blieb sie in ihrer Rolle, tastete sich vorwärts
und täuschte Unsicherheit vor, als wäre sie tatsächlich blind.
    Daß die 28jährige Journalistin sich
seit drei Tagen als scheinbar Nicht-Sehende unter ihren Mitmenschen bewegte und
möglichst jede nur denkbare Situation ausprobierte — das hing mit ihrer Aufgabe
zusammen.
    Was einer blinden, jungen Frau im
Alltag widerfährt, sollte sie herausfinden: im Auftrag der
,Bad-Fäßliftl-Nachrichten’, einer Provinz-Ausgabe der bekannten
AUSTRIA-NACHRICHTEN, die immerhin unter den bedeutendsten Zeitungen Europas den
69. Platz einnehmen.
    Und was hatte Susi, die mutige
Reporterin, bisher erlebt? Nichts. Die Hilfe hielt sich in Grenzen. Aber
niemand stieß die vermeintlich Blinde herum. Sie wurde nicht bevorzugt
behandelt, andererseits versuchte niemand, sie zu betrügen — an der Kasse oder
beim Bezahlen im Restaurant. Immer stimmte das Wechselgeld genau.
    Langweilig also auf der ganzen Linie.
Ein unergiebiges Thema offenbar und...
    In diesem Moment stolperte ein Mann aus
dem letzten Abteil — wenige Schritte vor ihr.
    Susi verharrte.
    Der Typ benahm sich, als hätte er eine
Klapperschlange unter dem Hemd.
    Sekundenlang starrte er Susi entgegen,
sein Gesicht weiß und angespannt. Dann wirbelte er herum und hetzte durch die
Pendeltür in den Vorraum, wo er am Einstieg die Haltestange umklammerte.
    Der Zug stoppte.
    Die untergehende Sonne goß ihr goldenes
Licht herein.
    Susi sah, wie der Typ sich ins Freie
warf, als wäre im Zug die Pest ausgebrochen. Der Mann rannte über den Bahnsteig
und rechts am Stationsgebäude vorbei, wo er hinter Büschen verschwand.
    Susi tastete sich weiter, erreichte
jetzt das letzte Abteil und blickte hinein.
    Ihr Herzschlag stockte.
    Als Reporterin mit Vorliebe für
abenteuerliche Themen war Susi eher hartgesotten, jedenfalls nicht
zartbesaitet. Aber dieser Anblick lähmte sie.
    Vorn am Fensterplatz sah sie einen
Mann, die Stirn gegen die Scheibe gesunken, die Arme hingen herab wie leere
Schläuche.
    Am Hinterkopf der Glatze rann Blut in
den Kragen. Eine Platzwunde klaffte. Eine Beule färbte sich pinkfarben ein und
schwoll immer noch an.
    Susi schrie auf. Hinter ihr, am Ende
des Waggons, wurde eine Pendeltür aufgestoßen.
    Susi wandte sich um.
    Der große, braunlockige Junge, der ihr
— samt seinen Freunden — im Speisewagen aufgefallen war, rannte herbei.
     
    *
     
    Tim hatte den Schrei gehört und war
durch den Seitengang gespurtet. Die Blinde sah ihm entgegen. Jetzt nahm sie die
dunkle Brille ab.
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