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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee
Autoren: Anita Shreve
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    Mein Vater fährt so schnell wie möglich, ohne zuviel zu riskieren.
Ich beiße bei jedem Rumpeln die Zähne zusammen. Die Straße ist von den frühen
Schneefällen und vom letzten Tauwetter tief zerfurcht. Im Frühjahr, bevor die
Gemeinde sie wieder planiert, wird sie beinahe unpassierbar sein. Im letzten
Frühjahr, als wir zwei Wochen Tauwetter hatten, mußte ich bei meiner Freundin
Jo wohnen, damit ich überhaupt zur Schule gehen konnte. Mein Vater, dem seine
Abgeschiedenheit so wichtig ist, marschierte eines Tages zu Fuß in den Ort, um
seine Tochter zu sehen. Wahrscheinlich war ihm zu Hause die Decke auf den Kopf
gefallen. Marion, die bei Remy’s an der Kasse sitzt, wollte ihn in ihrem Isuzu
zurückbringen, aber sie kam schon nach der ersten Kurve nicht mehr weiter. Mein
Vater mußte den Rest des Wegs zu Fuß gehen und hatte tagelang Muskelkater.
    Das Baby niest. Ich fahre zusammen. Es jammert einmal kurz, und
selbst im schwachen Schein der Innenbeleuchtung kann ich erkennen, daß sein
Gesicht glühend rot ist. Mein Vater langt herüber, um die Kleine zu berühren.
»Braves Mädchen«, flüsterte er in der Dunkelheit.
    Er läßt die Hand leicht auf dem Hügel aus weichem Flanell liegen.
Erinnert er sich jetzt an die Bewegung, mit der er Clara zu beruhigen pflegte?
Tut es ihm im Herzen weh? Der Weg den Hügel hinunter kommt mir viel länger vor
als sonst. Ich hoffe, das Kind wird die ganze Fahrt bis nach Mercy weinen.
    Mein Vater steigt aufs Gas, sobald die befestigte Straße beginnt,
und der Laster schwänzelt, weil das Reifenprofil vereist ist. Er treibt den
Tacho so weit hinauf, wie er es vermag, ohne die Gewalt über den Wagen zu
verlieren. Wir fahren an der Mobil-Tankstelle vorüber, an der Bank und an der
Zwergschule, von der ich im letzten Jahr abgegangen bin. Ich bin gespannt, ob
mein Vater bei Remy’s anhält und Marion das Baby übergibt, damit sie den
Rettungsdienst ruft. Aber er fährt an dem Lebensmittelgeschäft vorüber, weil
jeder Aufenthalt nur eine Verzögerung seines Bemühens wäre – das Kind an einen
Ort zu bringen, wo man sich seiner sachkundig annehmen kann.
    Wir passieren den kleinen Dorfanger, der im Winter als
Schlittschuhbahn dient. In der Mitte steht ein Fahnenmast mit einem
Scheinwerfer.
    Wer hat das Neugeborene im Schlafsack zurückgelassen?
    Beim Hinweisschild nach Mercy biegt mein Vater ab. Die Zufahrt zum
Krankenhaus ist von gelben Lichtern gesäumt, und ich erkenne, daß das Baby sein
Gesicht zusammenzieht, häßlich jetzt. Aber ich sehe noch die Augen vor mir, die
im Wald zu mir aufgeblickt haben – dunkle Augen, still und aufmerksam. Mein
Vater hält vor der Notaufnahme und drückt auf die Hupe.
    Die Tür auf meiner Seite wird aufgerissen, und ein Sicherheitsmann
in Uniform steckt den Kopf in den Wagen. »Was soll das Gehupe?«

 
    Â  ICH SEHE DAS BABY hinter
einer schweren automatischen Tür verschwinden. Mein Vater legt den Kopf zurück
und schließt die Augen. Beim fernen Heulen einer Sirene richtet er sich auf. Er
wischt sich die Nase mit dem Jackenärmel. Wie lange weint er schon? Er dreht
den Zündschlüssel und überdreht den Anlasser; der Motor läuft ja noch. Als
hätte er noch nie am Lenkrad eines Autos gesessen, fährt er, den
Hinweisschildern folgend, zum Parkplatz. Als wir aus dem Wagen steigen, blickt
er an sich hinunter und bemerkt erst jetzt, daß sein Hemd unter der Jacke immer
noch offensteht.
    Am
Bordstein vor dem Eingang zur Notaufnahme zögert mein Vater.
    Â»Dad?«
    Er legt seinen Arm um meine Schulter, und zusammen gehen wir in
unseren Stiefeln, die auf den Salzkörnchen rutschen, auf den Eingang zu.
    Die Vorhalle, beige und minzegrün, ist leer, und überall ist Metall.
Ich kneife die Augen zusammen im grellen Schein der Lampen, die wie
Blitzlichter flackern. Wo mag das Kind sein? Und wohin sollen wir gehen? Mein
Vater folgt den Schildern zur Unfallstation, jeder Schritt vorwärts auf den
Fliesen eine Kraftanstrengung. Wir gehören nicht hierher. Niemand gehört
hierher.
    Wir biegen um eine Ecke und kommen zu einem kleinen Raum mit an der
Wand befestigten Plastikstühlen. Dort sitzen fünf oder sechs Leute. Eine Frau
in Jeans und Pulli (in ihrem gelben Haar ist noch der Abdruck der Lockenwickel
erkennbar) geht auf und ab. Sie wirkt ungeduldig, verärgert über einen
mürrischen
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