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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee
Autoren: Anita Shreve
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Jungen, der ihr Sohn sein könnte. Im Mantel sitzt er auf seinem
Plastikstuhl, das Kinn von entzündeten roten Pickeln übersät. So, wie er seine
rechte Hand ängstlich in der linken hält, kann ich mir seine Verletzung
vorstellen: ein Finger?, das Handgelenk? Mein Vater geht zum Schalterfenster
der Aufnahme und bleibt wartend davor stehen, während eine Frau ein
Telefongespräch führt und ihn ignoriert.
    Ich schiebe die Hände in meine Jackentaschen und schaue den Korridor
hinunter. Irgendwo ist ein Zimmer mit einem Kinderbett und einem Arzt, der sich
um ein Baby kümmert. Ist die Kleine noch am Leben? Die Frau am Schalter klopft
an das Fenster, um meinen Vater auf sich aufmerksam zu machen.
    Â»Ich habe ein Neugeborenes gebracht«, sagt mein Vater. »Ein kleines
Mädchen, das ich im Wald gefunden habe.«
    Die Frau sagt einen Moment nichts. »Sie haben ein Neugeborenes
gefunden?« fragt sie dann.
    Â»Ja«, antwortet er.
    Sie schreibt etwas auf einen Block. »Ist das Kind verletzt?« erkundigt
sie sich.
    Â»Das weiß ich nicht.«
    Â»Sind Sie der Vater?«
    Â»Nein«, sagt er. »Ich habe es im Wald gefunden. Ich bin kein
Angehöriger. Ich habe keine Ahnung, wer das Kind ist.«
    Die Frau mustert ihn von neuem. Ich weiß, was sie sieht: einen
relativ groß gewachsenen Mann in einem fleckigen beigefarbenen Parka; vierzig,
vielleicht fünfundvierzig; Dreitagebart; dunkelbraune Haare mit einem grauen
Schimmer; senkrechte Kerben zwischen den Augenbrauen. Mein Vater, fällt mir
plötzlich ein, hat wahrscheinlich seit dem Frühstück vorgestern nicht mehr
geduscht.
    Â»Ihr Name?«
    Â»Robert Dillon.«
    Sie schreibt schnell, mit roter Tinte. »Adresse?«
    Â»Bott Hill.«
    Â»Sie sind versichert?«
    Â»Für mich, ja«, antwortet mein Vater.
    Â»Kann ich Ihre Versicherungskarte sehen?« fragt sie.
    Mein Vater klopft sich auf alle Taschen und hält inne. »Ich habe
meine Brieftasche nicht mit«, sagt er. »Ich habe sie auf der Konsole im
hinteren Flur vergessen.«
    Â»Keinen Führerschein?«
    Â»Nein«, antwortet mein Vater.
    Das Gesicht der Frau wird starr. Sie legt ihren Schreiber weg und
faltet langsam und kontrolliert, als fürchtete sie jede plötzliche Bewegung,
die Hände. »Nehmen Sie Platz«, sagt sie. »Es wird sich gleich jemand um Sie
kümmern.«
    Ich setze mich neben einen Mann mit teigigem Gesicht, der leise in
den Kragen eines tabakbraunen Daunenparkas hustet. In dem gnadenlosen Licht
sehen die Alten beinahe wie tot aus, und selbst die Kindergesichter haben
fleckige Haut. Nach einiger Zeit – zwanzig Minuten?, eine halbe Stunde? – tritt
ein junger Arzt im weißen Kittel in das Wartezimmer, um seinen Hals hängt eine
Gazemaske, in der Brusttasche steckt ein Stethoskop. Ihm folgt ein
uniformierter Polizeibeamter.
    Â»Mr. Dillon?« sagt der Arzt.
    Mein Vater steht auf und geht den Männern zur Mitte des Raums
entgegen. Ich stehe ebenfalls auf und folge ihm.
    Der Arzt ist ein blasser blonder Mann, der zu jung aussieht, um Arzt
zu sein. »Sind Sie der Mann, der den Säugling gefunden hat?« fragt er.
    Â»Ja«, antwortet mein Vater.
    Â»Ich bin Dr. Gibson, und das ist Chief Boyd.«
    Chief Boyd, einer der beiden Polizeibeamten von Shepherd, ist Timmy
Boyds Vater, das weiß ich. Vater und Sohn sind beide übergewichtig und haben
kantige schwarze Augenbrauen. Chief Boyd zieht ein Schreibheft und einen
Bleistiftstummel aus einer Tasche seiner Uniform.
    Â»Geht es ihr gut?« fragt mein Vater den Arzt.
    Â»Sie wird einen Finger verlieren, möglicherweise mehrere Zehen«,
antwortet der Arzt, sich die Stirn reibend. »Und es kann sein, daß ihre Lunge
etwas abbekommen hat. Aber um das mit Sicherheit zu sagen, ist es noch zu
früh.«
    Â»Wo haben Sie sie gefunden?« fragt der Chief meinen Vater.
    Â»Im Wald hinter unserem Haus.«
    Â»Auf dem Boden?«
    Â»In einem Schlafsack. Sie lag in ein Handtuch eingepackt in dem
Schlafsack.«
    Â»Wo sind das Handtuch und der Schlafsack jetzt?« Chief Boyd
befeuchtet die Spitze seines Bleistifts. Ich kenne diese Angewohnheit von
meiner Großmutter. Sie hat das immer getan, wenn sie ihre Einkaufslisten
geschrieben hat. Er spricht wie die meisten Leute in New Hampshire – dehnt das
A, verschluckt das R, gibt seinen Sätzen einen feinen Rhythmus mit.
    Â»Im Wald. Ich habe sie dort liegen
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