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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee
Autoren: Anita Shreve
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das Kind aus dem blutigen Handtuch. Von seinem
Nabel hängt etwas herab; die Nabelschnur, wie ich später lerne. Mein Vater legt
das Kind an seine bloße Haut und stützt das Köpfchen mit seiner offenen Hand. Ohne
mir bewußt zu sein, daß ich darauf geachtet habe, weiß ich, daß das Kind ein
Mädchen ist.
    Schwankend richtet mein Vater sich auf. Er legt sein Flanellhemd und
den Parka über das Kind und drückt den Stoff mit seinen Armen dicht zusammen,
so daß er ein großes Bündel hält, zuoberst die Tasche.
    Â»Nicky«, sagt er.
    Ich sehe ihn an.
    Â»Halt dich, wenn nötig, an meiner Jacke fest«, sagt er. »Aber bleib
auf keinen Fall mehr als ein, zwei Schritte hinter mir zurück.«
    Ich greife den Saum seines Parkas.
    Â»Halte den Kopf gesenkt und schau auf meine Füße.«
    Wir folgen Rauchgeruch. Manchmal nehmen wir ihn wahr, dann wieder
nicht. Ich kann die Silhouetten der Bäume erkennen, aber nicht die einzelnen
Äste.
    Â»Halt durch«, sagt mein Vater, aber ich weiß nicht, ob er mich meint
oder das Kind an seiner Brust.
    Halb rutschend rennen wir den langen Hügel hinunter. Meine
Oberschenkel brennen von der Anstrengung. Mein Vater hat die Taschenlampe
verloren, als er den Schlafsack im Schnee zurückgelassen hat, und wir haben
jetzt keine Zeit, sie zu suchen. Zweige zerkratzen mir das Gesicht, als wir zwischen
den Bäumen hindurcheilen. Meine Haare und mein Hals sind von geschmolzenem
Schnee durchnäßt, der auf der Stirn erneut gefriert. Von Zeit zu Zeit überkommt
mich eine wachsende Angst: Wir haben uns verlaufen und werden das Kind nicht
rechtzeitig in Sicherheit bringen. Es wird in den Armen meines Vaters sterben.
Nein, nein, rede ich mir zu, das werden wir nicht erlauben. Wenn wir das Haus
wirklich verfehlen, stoßen wir früher oder später auf den Highway. Auf jeden
Fall.
    Ich sehe das Licht einer Lampe in der Werkstatt meines Vaters. »Dad!
Schau!« sage ich.
    Die letzten hundert Meter kommen mir vor wie die längsten meines
Lebens. Ich reiße die Tür für meinen Vater auf. Wir lassen unsere Schneeschuhe
an den Füßen, Bambus und Darmriemen klatschen auf unserem Weg zum Herd auf den
Boden. Mein Vater setzt sich auf einen Stuhl. Er öffnet die Jacke und schaut zu
dem kleinen Gesicht hinunter. Die Augen des Kindes sind geschlossen, die Lippen
immer noch bläulich. Er hält seinen Handrücken dicht über den Mund, und die
Art, wie er die Augen schließt, verrät mir, daß die Kleine atmet.
    Ich schnalle erst meine Schneeschuhe ab, dann die meines Vaters.
    Â»Ein Krankenwagen schafft den Hügel nicht«, sagt mein Vater. Das
Kind immer noch an seine Brust gedrückt, steht er auf. »Komm mit.«
    Wie gehen zum Scheunentor hinaus, den Weg hinunter zum Haus, und
nehmen die hintere Tür. Mein Vater springt in großen Sätzen die Treppe hinauf
und eilt in sein Zimmer. Kleidungsstücke liegen auf dem Boden herum und
Zeitschriften auf dem Bett. Ich komme selten ins Zimmer meines Vaters. Er nimmt
einen Pullover, wirft ihn aber gleich wieder weg, weil die Wolle so rauh ist.
Das Flanellhemd, das er dann aufhebt, ist nicht gewaschen. In der Ecke steht
ein blauer Plastikkorb für die schmutzige Wäsche, mit dem mein Vater und ich
ungefähr einmal in der Woche zum Waschsalon fahren. In der Zwischenzeit dient
er ihm als eine Art Kommode.
    Â»Gib mal her«, sagt er und zeigt auf den Korb.
    Mit einem Arm fegt er die Zeitschriften vom Bett. Ich stelle den
Wäschekorb darauf. Er holt das Kind unter seinem Parka hervor und wickelt es in
zwei saubere Flanellhemden, so daß nur noch das kleine Gesicht herausschaut. Er
baut aus Leintüchern ein Nest im Korb und legt das Kind behutsam hinein.
    Â»In Ordnung«, sagt er, um sich selbst zu beruhigen. »Jetzt ist alles
in Ordnung.«
    Ich klettere in den Laster. Mein Vater stellt den Korb auf meinen
Schoß.
    Â»Geht’s
dir gut?« fragt er mich.
    Ich nicke, denn eine andere Antwort ist ausgeschlossen.
    Mein Vater steigt ein und steckt den Schlüssel ins Zündschloß. Ich
weiß, er betet darum, daß der Motor anspringt. Im Winter tut er das nur alle
heiligen Zeiten gleich beim ersten Versuch. Der Motor hustet, und mein Vater
bringt ihn mit viel gutem Zureden zum Laufen. Ich wage nicht, zu dem Kind im
Plastikkorb hinunterzuschauen; ich habe Angst, nicht wie bei mir die
Atemwölkchen in der eisigen Luft zu
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