Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee
Autoren: Anita Shreve
Vom Netzwerk:
gelassen.«
    Â»Sie wohnen auf dem Bott Hill, richtig?«
    Â»Ja.«
    Â»Ich seh Sie manchmal«, sagt Chief Boyd. »Bei Sweetser.«
    Â»Ich glaube, es war in der Nähe des Motels, das dort oben ist«,
erklärt mein Vater. »Der Name fällt mir jetzt nicht ein.«
    Der Chief wendet sich von meinem Vater ab und spricht in ein
Funkgerät, das oben an seiner Schulter festgeklemmt ist. Ich sehe mir das
Amtszubehör an, das er an seiner Uniform trägt.
    Â»Wie lange hat sie da oben gelegen?« fragt der Arzt meinen Vater.
    Â»Keine Ahnung«, antwortet mein Vater.
    Vor mir erscheint das Bild des Neugeborenen, das still im Schnee in
der Dunkelheit liegt, und ich stoße einen Laut aus. Mein Vater legt mir die
Hand auf die Schulter.
    Â»Erzählen Sie mir, wie Sie sie gefunden haben«, fordert Chief Boyd
meinen Vater auf.
    Â»Meine Tochter und ich haben eine kleine Wanderung gemacht, und da
hörten wir Schreie. Anfangs wußten wir nicht, was für Schreie das waren. Wir
dachten, es wäre vielleicht eine Katze. Aber dann hörten sie sich menschlich
an.«
    Â»Haben Sie etwas beobachtet? In der Nähe des Säuglings jemanden
gesehen?«
    Â»Wir hörten, wie eine Autotür zugeschlagen wurde. Und danach
Motorengeräusch«, berichtet mein Vater.
    Aus Chief Boyds Funkgerät meldet sich jemand. Er dreht den Kopf zur
Schulter, um zu sprechen. Er wirkt erregt und wendet sich von uns ab. Ich höre
ihn sagen, achtundzwanzig Jahre Erfahrung und er ist hier .
    Ich höre ihn unterdrückt fluchen.
    Dann wendet er sich uns wieder zu und steckt Heft und Bleistift ein.
Er braucht ziemlich lange dazu. »Kann Mr. Dillon hier irgendwo warten?«
fragt er den Arzt. »Es kommt gleich ein Kollege der State Police vom Dezernat
für Schwerverbrechen aus Concord rauf.«
    Der Arzt reibt sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken.
Seine Augen sind rot vor Müdigkeit. »Er kann sich in den Aufenthaltsraum für
das Personal setzen«, sagt er.
    Â»Das Mädchen kann ich nach Hause bringen«, fährt Chief Boyd fort,
als wäre ich gar nicht da. »Ich muß sowieso in die Richtung.«
    Ich drücke mich an meinen Vater. »Ich will bei dir bleiben«,
flüstere ich.
    Mein Vater sieht mir forschend ins Gesicht. »Sie bleibt bei mir«,
sagt er.
    Wir folgen dem Arzt in einen Aufenthaltsraum nicht weit vom
Wartezimmer. Drinnen stehen hohe Metallspinde, ein Paar Langlaufski lehnt in
einer Ecke an der Wand, ein Berg Jacken liegt auf einem Resopaltisch. Ich setze
mich an einen anderen Tisch und schaue mir die Verkaufsautomaten an. Ich merke,
daß ich Hunger habe. Und mir fällt ein, daß mein Vater seine Brieftasche nicht
mit hat.
    Ich muß daran denken, daß das kleine Mädchen einen Finger verlieren
wird und vielleicht mehrere Zehen. Wird das eine Behinderung sein? Wird ihr das
Laufenlernen Mühe machen, wenn ihr mehrere Zehen fehlen? Wird sie später Basketball
spielen können, wenn ihr ein Finger fehlt?
    Â»Ich kann Jos Mutter anrufen«, sagt mein Vater. »Sie kann dich
abholen.«
    Ich schüttle den Kopf.
    Â»Ich würde dich abholen, wenn das hier alles vorbei ist«, fügt er
hinzu.
    Â»Nein, nein, ich bleibe«, entgegne ich und sage nichts von meinem
Hunger, weil er mich dann ganz sicher zu Jo verfrachten würde. »Wird das Baby
wieder gesund?« will ich wissen.
    Â»Das müssen wir abwarten«, antwortet mein Vater.
    Â»Dad?«
    Â»Ja?«
    Â»Das war verrückt, nicht?«
    Â»Ja.«
    Ich lupfe die Pobacken und schiebe meine Hände darunter. »Und auch
gruselig«, sage ich.
    Â»Ein bißchen, ja.«
    Mein Vater nimmt seine Zigaretten aus der Jackentasche, überlegt es
sich dann aber anders.
    Â»Wer kann sie da hingelegt haben?« frage ich.
    Er reibt sich das stoppelige Kinn. »Keine Ahnung«, antwortet er.
    Â»Glaubst du, sie geben sie uns?«
    Die Frage scheint meinen Vater zu überraschen. »Wir haben kein Recht
auf das Kind«, sagt er bedächtig.
    Â»Aber wir haben sie doch gefunden«, entgegne ich.
    Mein Vater beugt sich vor und faltet die Hände zwischen den Knien.
»Wir haben sie gefunden, ja, aber sie gehört uns nicht. Sie werden versuchen,
die Mutter zu finden.«
    Â»Die Mutter will sie nicht haben«, wende ich ein.
    Â»Das wissen wir nicht mit Sicherheit«, sagt mein Vater.
    Mit der unerschütterlichen Gewißheit der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher