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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee
Autoren: Anita Shreve
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von der Gemeinde nicht besonders gut instand gehalten.
Ich fürchte, ein Rettungswagen wäre steckengeblieben.«
    Warren betrachtet meinen Vater über den Rand seines Kaffeebechers
hinweg. »Erzählen Sie mehr über den Schlafsack«, sagt er.
    Â»Er war außen glänzendblau und innen kariert«, antwortet mein Vater.
»Ein billiges Ding, wie man es bei Ames bekommt. Ein Handtuch war auch dabei.
Weiß und voll mit Blutflecken.«
    Â»Wohnen Sie schon lange auf dem Bott Hill?« Warren trinkt vorsichtig
einen Schluck von seinem Kaffee. Sein Blick ist aufmerksam und distanziert
zugleich, als spielte sich alles Wichtige woanders ab.
    Â»Seit zwei Jahren.«
    Â»Woher kommen Sie?«
    Â»Ich bin in Indiana aufgewachsen, aber hierher bin ich aus New York
gekommen.«
    Â»Aus der Stadt?« Warren zupft sich an einem Ohrläppchen.
    Â»Ich habe in der Stadt gearbeitet. Gewohnt haben wir etwas nördlich
auf dem Land.«
    Â»Wenn Sie nicht gewesen wären, Mr. Dillon«, sagt Warren,
»hätten wir im Frühjahr nur noch ein paar Knöchelchen gefunden.«
    Mein Vater schaut mich an. Ich halte den Atem an. Ich will nicht an
die Knöchelchen denken.
    Â»Ist Ihnen warm?« fragt Warren meinen Vater. »Ziehen Sie doch Ihre
Jacke aus.«
    Mein Vater zuckt mit den Schultern, aber jeder kann sehen, wie er in
dem überheizten Raum schwitzt.
    Â»Wie haben Sie den Säugling gefunden?« will der Kriminalbeamte
wissen.
    Â»Wir waren auf einer kleinen Wanderung.«
    Â»Um welche Zeit?«
    Mein Vater überlegt einen Moment. Um welche Zeit ist es gewesen? Er
trägt keine Uhr mehr, weil er damit zu oft an seinen Werkzeugen hängenbleibt.
Ich schaue zur Uhr über der Tür. Fünf vor halb sieben. Es kommt mir vor wie
Mitternacht.
    Â»Es war nach Sonnenuntergang«, sagt mein Vater. »Die Sonne war
gerade hinter der Hügelhöhe verschwunden. Ich würde sagen, wir haben sie
vielleicht zehn bis fünfzehn Minuten später gefunden.«
    Â»Sie waren im Wald«, sagt Warren.
    Â»Ja.«
    Â»Gehen Sie oft nach Sonnenuntergang im Wald spazieren?«
    Der Kriminalbeamte stellt den Kaffeebecher auf den Tisch, greift in
die Manteltasche und zieht ein kleines Schreibheft heraus. Er schlägt es auf
und macht sich mit einem kurzen Bleistift eine Notiz. Ich hätte gern auch so
einen kurzen Bleistift.
    Â»An schönen Tagen, ja«, antwortet mein Vater. »Ich höre meistens so
gegen Viertel vor vier mit der Arbeit auf. Wir versuchen dann, noch ein Stück
zu laufen, ehe es ganz finster wird.«
    Â»Sie und Ihre Tochter.«
    Â»Ja.«
    Â»Wie alt bist du?« fragt Warren mich.
    Â»Zwölf.«
    Â»Siebte Klasse?«
    Â»Ja.«
    Â»An der regionalen High-School?«
    Ich nicke.
    Â»Wann kommst du immer nach Hause?«
    Â»Um Viertel nach drei. Mit dem Bus«, antworte ich.
    Â»Dann ist es noch eine Viertelstunde zu Fuß den Hügel hinauf«,
ergänzt mein Vater.
    Warren wendet sich wieder meinem Vater zu. »Wie haben Sie das Kind
entdeckt, Mr. Dillon?«
    Â»Mit der Taschenlampe. Wir hatten das Weinen der Kleinen gehört. Wir
suchten schon nach ihr. Das heißt, nach einem kleinen Kind.«
    Â»Wie lange waren Sie da schon unterwegs?«
    Sie werden von einer Lautsprecherstimme unterbrochen, die
Dr. Gibson ruft. Sofort mache ich mir Gedanken, ob etwas mit dem Baby ist.
»Ungefähr eine halbe Stunde«, sagt mein Vater.
    Â»Haben Sie irgend etwas Ungewöhnliches gehört?«
    Â»Ich dachte zunächst, es wäre eine Katze«, erklärt mein Vater. »Ich
habe gehört, wie eine Autotür zugeschlagen wurde. Und dann startete jemand
einen Motor.«
    Â»Von einem Lastwagen? Oder einem PKW ?«
    Â»Das kann ich nicht sagen.«
    Â»Nachdem Sie den Säugling gefunden hatten?«
    Â»Nein. Vorher.«
    Â»Bevor Sie den ersten Schrei gehört hatten oder nachher?«
    Â»Nachher«, sagt mein Vater. »Ich weiß noch, daß ich dachte, da ginge
wahrscheinlich jemand mit einem Baby spazieren.«
    Â»Im Wald? Mitten im tiefsten Winter?«
    Mein Vater zuckt mit den Schultern. »Ich wollte hinten herum zum
Bott Hill rauf. Da ist eine Steinmauer. Die nehmen wir uns bei unseren
Wanderungen oft als Ziel.«
    Ich muß daran denken, wie oft mein Vater da oben auf der Mauer
gesessen und eine Zigarette geraucht hat. Werden wir da je wieder hinaufgehen?
    Â»Würden Sie die Stelle
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