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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee
Autoren: Anita Shreve
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Aufzug abwärts fahren. Mir fällt
auf, daß mein Vater stinkt. Als wir aussteigen, reicht Dr. Gibson meinem
Vater die Hand. »Ich bin froh, daß Sie sie gefunden haben, Mr. Dillon.«
    Mein Vater schüttelt dem Arzt die Hand. »Ich würde Sie gern morgen
anrufen«, sagt er. »Um zu hören, wie es ihr geht.«
    Â»Ich bin den ganzen Tag da«, sagt Dr. Gibson. Er gibt meinem
Vater eine Karte, und wir sehen ihm nach, als er davongeht.
    Â»Wo haben Sie Ihren Wagen?« fragt Detective Warren meinen Vater.
    Mein Vater muß einen Moment überlegen. »Auf dem vorderen Parkplatz«,
antwortet er dann.
    Â»Können Sie mit mir fahren?« fragt Warren. »Ich möchte Ihnen gern
etwas zeigen.«
    Â»Meine Tochter ist müde«, entgegnet mein Vater.
    Â»Sie kann ja hier warten«, meint Warren. »Und Sie holen sie ab, wenn
ich Sie hier wieder absetze. Was ich vorhabe, dauert nicht lang.«
    Â»Nein, Dad«, sage ich hastig.
    Warren öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber mein Vater kommt ihm
zuvor. »Sie geht mit«, entscheidet er.

 
    Â  WARREN FÄHRT EINEN ROTEN JEEP , eine
komische Idee für einen Beamten der State Police, finde ich. Wahrscheinlich
arbeitet er nicht allzu häufig verdeckt. Vielleicht braucht er den Geländewagen
zur Verbrecherjagd in der Prärie.
    Â»Sie
müssen mich lotsen«, sagt Warren. »Ich habe selten Anlaß, hier heraufzukommen.«
    Â»Wohin soll es denn gehen?« fragt mein Vater.
    Â»Zu dem Motel«, antwortet Warren.
    Wir fahren durch den kleinen Ort Shepherd im Staat New Hampshire,
nach Asa Henry Shepherd benannt, einem Bauern, der 1763 aus Connecticut kam, um
hier Land zu bestellen. Im örtlichen Telefonbuch gibt es mehr als dreißig
Shepherds.
    Â»Das Wetter soll ja morgen ganz übel werden«, bemerkt Warren. »Es
soll gefrieren, haben sie im Radio gesagt. Ich hasse es, wenn es eisig wird.«
    Mein Vater sagt nichts. Es ist bitterkalt im Jeep. Ich sitze hinten.
Warren fährt mit offenem Mantel, den roten Schal lose um den Hals.
    Â»Glatteis ist das Schlimmste, was es gibt«, fährt Warren fort. »Vor
zwei Jahren war hier eine Familie aus North Carolina. Die Leute fuhren bei
Grantham vom Highway ab. Sie wollten zum Skilaufen und hatten noch nie was von
Glatteis gehört. Ihr Chevy hat einfach abgehoben.«
    Ich beobachte die frostigen Atemstöße meines Vaters, die in
rhythmischen Intervallen aufeinanderfolgen.
    Â»In dem Motel drüben bei Ihnen ist ein junges Paar abgestiegen«,
sagt Warren. »Den Mann konnte die Eigentümerin beschreiben, die Frau hat sie
angeblich nicht zu Gesicht bekommen. Es handelt sich um einen Weißen, ungefähr
einen Meter fünfundsiebzig groß, Anfang Zwanzig, welliges schwarzes Haar. Er
hatte so eine dicke dunkelblaue Jacke an, wie sie die Seeleute oft tragen. Sie
meint, er hätte einen Volvo gefahren, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt.
Eigentlich sollen sie ja das Kennzeichen notieren, aber sie hat’s nicht getan.«
    Â»Einen Volvo?« Mein Vater ist erstaunt.
    Warren läßt unsere Straße abseits liegen und fährt in östlicher
Richtung zu der Verbindungsstraße, die uns zum Motel bringen wird. Das
Scheinwerferlicht erlaubt flüchtige Blicke in den Wald, denselben Wald, an den
unser Grundstück grenzt. Durch die Windschutzscheibe kann ich am nächtlichen
Himmel einen rätselhaften Lichtschein erkennen, als erwartete uns auf der Höhe
des Hügels eine kleine Stadt.
    Warren fährt schnell. Mein Vater ist nicht gern Beifahrer, er war es
schon seit Jahren nicht mehr. Ich kann den Mann vor mir riechen – nasse Wolle
und Kaffee, von einem schwachen Hauch Pfefferminz durchzogen.
    Â»Hier müssen Sie abbiegen«, sagt mein Vater.
    Warren zieht den Wagen auf eine asphaltierte Auffahrt, die einen
kurzen Hügel hinauf zu dem Motel führt, einem mit roten Schindeln gedeckten
niedrigen Bau. Auf dem Parkplatz stehen zwei Streifenwagen und drei andere
Autos. Der Wald hinter dem Motel ist von mehreren starken Scheinwerfern
erleuchtet.
    Warren springt aus dem Jeep und winkt meinem Vater, ihm zu folgen.
    Â»Du bleibst hier«, sagt mein Vater zu mir.
    Â»Ich will aber mit«, sage ich.
    Â»Ich bin gleich wieder da«, sagt er.
    Die Tür eines der Motelzimmer steht offen. Drinnen kann ich zwei
uniformierte Polizisten erkennen, einer von ihnen ist Chief Boyd. Mein Vater
geht zusammen
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