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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee
Autoren: Anita Shreve
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mit dem Kriminalbeamten über den Platz.
    Ich ziehe die Knie hoch und umschließe die aufgestellten Beine mit
den Armen. Das Fenster neben mir ist verschmiert, aber ich sehe meinen Vater,
der jetzt die letzte Treppenstufe hinaufsteigt und in das erleuchtete Zimmer
tritt. Ich verstehe nicht, wie sie mich allein im Auto zurücklassen konnten.
Was ist, wenn die Person, die das Neugeborene ausgesetzt hat, sich noch in der
Umgebung aufhält?
    Ich neige mich zur Seite und lasse mich von meinem Gewicht auf das
Polster hinunterziehen, so daß ich schließlich auf dem Rücksitz liege,
zusammengekrümmt wie ein Fötus im Mutterleib. Ich bin im Auto eines
Kriminalbeamten. Etwas wie Erregung, in die sich Furcht mischt, kribbelt mich
im Nacken.
    Im Licht der Parkplatzbeleuchtung mustere ich den Boden des Wagens:
eine leere Coladose, ein gebrauchtes Papiertaschentuch, ein paar
hinuntergefallene Münzen. In der Tasche in der Rückenlehne des Vordersitzes
stecken ein Atlas und eine Kassette. Ah, und was ist das? Ich schiebe die Hand
tiefer und treffe auf einen Snickers-Riegel, ungeöffnet. Ich ziehe die Hand
zurück. Unter dem Beifahrersitz liegt ein langes Metallding, es könnte ein
Werkzeug sein. Abgesehen davon ist es ziemlich aufgeräumt im Wagen, ganz anders
als im Fahrerhäuschen unseres Lasters, wo alles vollgerümpelt ist: Lumpen,
Holzreste, Sägemehl, Werkzeug, Jacken und Socken. Und wo es außerdem riecht –
nach verfaulten Äpfeln. Mein Vater schwört, daß im ganzen Laster kein Apfel
ist, er habe alles durchsucht, aber ich bin sicher, daß mindestens einer irgendwo
hinten vor sich hin fault.
    Erst weine ich mal eine Minute. Es tut mir gut, auch wenn ich zum
Schneuzen nur meinen Ärmel habe. Ich muß daran denken, wie mein Vater auf dem
Parkplatz vom Krankenhaus geweint hat. Als hätte er ganz vergessen, daß ich da
war.
    Mein Vater und ich haben einem Menschen das Leben gerettet. Morgen
in der Schule werde ich der Star sein. Hoffentlich sagt mein Vater nicht, daß
ich nicht darüber sprechen soll. Ich bin gespannt, ob es in der Zeitung steht.
Meine Zähne beginnen aufeinanderzuschlagen, kann sein, daß ich auch ein bißchen
nachhelfe. Ich denke an unsere Wanderung, daran, wie wir das Baby im Wald
gefunden haben, wie mein Vater auf die Knie gefallen ist. Ich überlege, ob
gefährliche Unterkühlung Grund genug ist, aus dem Jeep zu steigen und ins Haus
zu laufen.
    Ich setze mich auf und schaue zum Fenster hinaus, das leicht
beschlagen ist. Wie lange ist mein Vater schon weg? Meine Hände sind kalt. Wo
sind meine Fäustlinge geblieben? Ich habe einen Riesenhunger. Seit der
Mittagspause in der Schule habe ich nichts mehr gegessen. Das war um halb
zwölf. Ich muß dauernd an den Snickers-Riegel denken. Ob Warren es merkt, wenn
ich ihn aufesse? Und wenn er es merkt, wird er böse werden? Ich greife in die
Tasche in der Rückenlehne und hole den Schokoriegel heraus. Eine Weile lasse
ich ihn auf meinem Schoß liegen und starre auf die Tür des Motelzimmers. Ich
muß ihn schnell essen und dann das Einwickelpapier verstecken. Auf keinen Fall
möchte ich mit Schokolade im Mund erwischt werden.
    Ich reiße das Papier auf. Der Riegel ist hart von der Kälte, aber er
schmeckt köstlich. Ich verschlinge ihn, so schnell ich kann, wische mir den
Mund mit den Fingern und stopfe das Papier in meine Jeanstasche. Ein wenig
außer Atem lehne ich mich schließlich zurück.
    Mit eingezogenem Kopf, in Erwartung einer Zurechtweisung, steige ich
aus dem Jeep und schlage die Tür zu. Ich gehe über den frei gepflügten
Parkplatz. Jetzt höre ich Stimmen – die bewußt ruhigen Stimmen von Technikern
bei der Arbeit. Auf der Treppe zögere ich. Ich fürchte einen Anpfiff.
    Das Zimmer ist klein und wäre auch ohne die blutigen Laken und die
vom Bett gezogenen beschmutzten Decken bedrückend. Die Wände sind mit dünnen
Kunststoffplatten getäfelt, die wie Kiefernholz aussehen sollen. Das Zimmer hat
eine Kommode und ein Fernsehgerät, und es riecht stark nach Schimmel. Unter dem
einzigen Fenster, das offensteht, liegt ein blutbeflecktes Laken. Hinter diesem
Fenster kann ich die Scheinwerfer im Schnee erkennen.
    Einer der Techniker arbeitet am Bett.
    Â»Hier hat eine Frau entbunden«, sagt Warren gerade.
    Auf einem Beistelltisch steht ein Glas Wasser, zur Hälfte gefüllt.
Eine Socke liegt auf dem Teppich.
    Â»Es
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