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Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide

Titel: Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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mit heftig gefurchter Stirn. Verra beugte sich näher. Reyna sah die beiden an und leckte sich über die trockenen Lippen. Dann fürchtete sie sich plötzlich davor, noch länger zu warten, fürchtete sich, Erwartungen zu fördern, die möglicherweise enttäuscht würden; sie zog die Hüllen vom Paket.
    Sie hielt den Atem an, als ihr erster Blick sie darüber belehrte, daß sie richtig vermutet hatte. Sie erkannte beim ersten Blick, wie gut die Ungesehene ihren Gesang verstanden hatte. Oder wie gut die Sithi ihn verstanden und ihn mittels der blauen Singseide übersetzt hatte.
    Vorsichtig, um sie nicht mit den Fingernägeln einzureißen, zog Reyna eine reinweiße Seide aus dem Paket. Sie war viel größer als ihre Sternenseide und wirkte weit kostbarer. Aber sie sah sogleich, daß feste Fäden hineingewoben waren, und sie vermutete gleich, nachdem sie das Gewebe berührt hatte, daß diese Seide äußerst widerstandsfähig war. Dies war eine Seide, die viele Jahrhunderte überdauern würde – und viele Legenden.
    Sie erhob sich, schüttelte die Seide aus und hoffte, daß sie nicht ungebärdig wäre wie die rote Seide; hoffte, daß sie nicht versuchen würde, ihr zu entkommen. Hätte sie es ertragen, wenn sie Birnam Rauth gefunden hätte, und er nur wünschte, frei zu sein? Wenn er nur wünschte, zwischen die Bäume fortzufliegen, wie die rote Seide es getan hatte?
    Aber er tat es nicht. Die Seide bewegte sich mit eigener Anmut in der leichten Brise, umschmeichelte sie zunächst, legte sich dann leicht um ihre Schultern und einen Arm, und hielt sich dort. Sie konnte ihr Leben spüren und den Willen in der seidenen Berührung. Sie konnte beinahe die Vorgänge in ihrem Denken nachvollziehen, als sie mit einer Stimme zu ihr sprach, die ihr schon vertraut war.
    Rasch holte Verra das Übersetzungsgerät. Es wiederholte Birnam Rauths erste Worte für sie in seiner eigenartig geschlechtslosen Sprache: »Wer bist du? Ich merke, daß du ein Mensch bist. Wer bist du?«
    Reyna holte tief Luft, zog ihre Unterlippe zwischen die Zähne, und in ihren Augen brannten plötzlich Freudentränen. Sie berührte die Seide mit verwunderten Fingerspitzen. Es war schwer zu glauben, daß dies tatsächlich geschah. Es war kaum zu glauben, daß es Wirklichkeit war. Sie hatte ihre Prüfung bestanden. Sie hatte auf ihre Suche verzichtet. Aber durch die Vermittlung der Sithi und der Ungesehenen war Birnam Rauth hier und sprach zu ihr. Sie hatte die Furcht der Sithi verstanden und die Verletzbarkeit der Ungesehenen, und sie hatten sie wiederum verstanden.
    Sie hatten noch mehr getan, als sie nur zu verstehen. Sie waren über sich selbst hinausgewachsen, beide. Sie war auf ihrer Suche sternenweit gereist, und sie war vollbracht; nicht, indem sie Listen angewandt hatte, nicht, indem sie Gewalt angewandt hatte, sondern indem sie sich darum bemüht hatte, zwei fremdartige Geschöpfe zu verstehen.
    Sie lachte laut auf, übermütig. Lektionen. Es beinhaltete Lektionen. Einige davon hatte sie vergangene Nacht gelernt. Einige lernte sie augenblicklich. Und es gab viele andere, die sie noch bedenken mußte. Aber jetzt war nicht die Zeit dafür. Rasch nahm sie Verra den Übersetzer ab und stellte ihn ein.
    »Ich bin Reyna Terlath«, sagte sie. »Ich bin die Tochter deines Sohnes, und ich bin hierhergekommen, weil du mich gerufen hast.«
    »Tochter? Meines Sohnes? Du hast meinen Ruf vernommen?«
    »Ich habe ihn vernommen«, sagte sie. Und jetzt war sie bereit, vieles zu hören, vieles zu schauen, vieles zu tun – sogar einiges, das sie nie zuvor in Erwägung gezogen hatte.
    Aber heute gab es Wichtigeres zu tun. Sie spürte die Wärme von Juarens Schulter an ihrer. Sie spürte die Hitze der Mittagssonne auf ihrem Haar. Sie fühlte die Freude in Verras Lächeln. Und sie spürte die ersten Anzeichen von Birnam Rauths Verstehen – daß er frei war, daß er unter Verwandten war, daß jemand seinetwegen gekommen war. Rasch versuchte sie, den Gesamtzustand seines Geistes zu ermitteln. Sie versuchte herauszufinden, was er zuerst schmecken wollte, zu Beginn seiner Freiheit.
    Wärme. Licht. Wind. Die Berührung einer menschlichen Hand. Schnell stand sie auf und ging barfuß zu einer Stelle, wo das Sonnenlicht ungehindert durch die Bäume schien; zu einer Stelle, wo der Wind ihn mit sanften Fingern umschmeicheln konnte. Sie beorderte Juaren an ihre Seite. »Hier ... reiche ihm den Arm, damit er dich berühren kann.«
    Er sollte an der Wärme teilhaben; an der Freude
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