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Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied

Titel: Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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um dich zu schützen?«
    »Ich ...« Nichts von dem, was Oki sagte, ergab einen Sinn. Was könnte sie erwidern, außer, sie kehrte den Angriff um? »Mein Vater – warum hat er mich hier zurückgelassen? Warum ist er nicht meinetwegen zurückgekehrt?«
    Oki murrte, die Augen loderten boshaft. »Er hat dich nicht hier zurückgelassen. Er ließ dich in meiner Hütte zurück, drei Tage in südlicher Richtung. Er kam angeritten, und du warst krank. Er hielt vor meiner Hütte, und ich flößte dir Heiltee ein und pflegte dich sieben Tage lang. Dann ging er fort, um sein Tier zum Paaren in den Wald zu bringen, als deine Besserung Fortschritte machte.«
    Es stimmte; ihr Vater hatte sie bei Oki in dem südlichen Fischerdorf zurückgelassen, wo sie gelebt hatten, bevor sie hierher gezogen waren. Ihr Vater hatte sie verlassen – und vorgehabt wiederzukommen. Warum war er nicht zurückgekehrt?
    Vielleicht war er zurückgekommen? Vielleicht ... Kevas Finger umklammerten den blauen Stein fester. Sie ahnte die
    Wahrheit bereits einen Moment, bevor Oki sie zugab. »Oki ...«
    Äußerste Befriedigung verzerrte Okis Gesicht. »Er dachte, er könnte dich in meiner Hütte zurücklassen und wiederkommen, und du wärst immer noch da. Also gut, er kam zurück. Er kam zurückgeritten, aber alles, was er vorfand, war eine leere Hütte.«
    Ja; so mußte es gewesen sein.
»Weil du mich fortgenommen hast.«
    »An dem Tag, als er fortritt, nahm ich dich mit in den Wald. Meinen Nachbarn sagte ich, du wärst gestorben und ich würde dich beerdigen. Folglich versteckten wir uns am Tag und wanderten nachts. Wir versteckten uns und wanderten, während er ohne dich davonritt. Wie kam er darauf, daß ich dich pflegen und dann zurückgeben würde? Gerade in der Zeit, als mein Mann im Sturm ertrunken war und keine der Hexen im Süden bereit war, mir einen Mann auszuleihen, damit ich ein eigenes Kind bekäme?«
    Keva nickte, als ein weiteres Puzzleteil an seinen Platz paßte. Nicht ihre Eltern waren im Sturm umgekommen, sondern es hatte Okis Mann erwischt. »Die Tiefweeds ...«
    »Die Tiefweeds haben ihn mir genommen, und plötzlich hatte ich niemanden mehr. Bis
er
kam und dich bei mir ließ. Was hatte er erwartet? Warum sollte ich dich gesund pflegen und danach fortgehen lassen, daß du eine von denen würdest? Nein, ich ließ ihn ruhig die Nachbarn befragen und nach deinem Grab suchen. Schließlich gab er es auf und ritt fort. Er war diese Art Mann. Ich hatte es ihm schon am ersten Tag am Gesicht angesehen, als er dachte, daß du sterben würdest. Er war daran gewöhnt, das zu verlieren, was ihm am Herzen lag; ebenso, wie ich daran gewöhnt war, einsam zu sein. Aber ich habe diesen Zustand beendet.«
    Keva schüttelte ungläubig den Kopf. Ihren Vater nach ihrem Grab suchen zu lassen, sie fragen zu lassen, so viele Jahre zu lügen ...
    »Du bist diejenige, die aus Stein ist, Oki.
Du.«
    Okis Kiefermuskeln verkrampften sich. Ihre Augen huschten zum Bett, wo Lekki schlief. Einen Moment lang huschten Ärger und Verwirrung über ihr Gesicht. »Ich hatte niemanden«, murmelte sie.
    »Hat er denn jemanden gehabt, nachdem du mich ihm fortgenommen hast?«
    Okis Gesicht bebte. Sie drehte sich weg, ihre massigen Schultern waren verkrümmt. »Ich hatte niemanden.«
    Das einzige Geräusch in der Hütte war Lekkis Atem, der anzeigte, daß sie schlief. Keva stand lange Minuten reglos wie ein Stein und fragte sich, was zu tun sei. Sie konnte hier nicht bleiben. Sie war kein Kind mehr, das man stehlen und verstecken konnte. Sie war aber auch kein Waisenkind. Sie hatte – irgendwo – einen Vater. Widerstrebend drehte sie sich um und schaute auf ihre schlafende Halbschwester. Es würde ihr schwer fallen, Lekki ohne Abschied zu verlassen.
    Für ihren Vater war es schwer gewesen, sie zu verlassen, und dann hatte Oki sie ihm geraubt. Er hatte auch keine Gelegenheit gehabt, sich von ihr zu verabschieden. Keva schüttelte den Kopf, legte die Stirn in Falten und wandte sich dem Korb zu, wo sie ihre Kleider aufbewahrte. Sie mußte gehen, und sie mußte bedachtsam vorgehen. Es war jetzt Frühling, aber in den Gebieten jenseits der Warmströme würde es kalt sein. Sie würde Steppdecken und zusätzliche Kleidung brauchen. Ihre Hände bebten, als sie die dicksten Kleider zu einem Bündel zusammenband und ein zweites Bündel aus ihrem Bettzeug machte.
    Sie vermied es, sich umzudrehen, um Okis Blick nicht zu begegnen. Sie vermied es, an etwas anderes als die Notwendigkeit des
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