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Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied

Titel: Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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verschlingen drohte. In diesem Frühling war er manchmal im hellen Sonnenlicht über die Plaza geschlendert und hatte sich dann schnell umgedreht, um festzustellen, ob er einen Schatten warf. Oft war er nur herumgestanden und hatte den Hallenverwaltern und den Küchenmonitoren nachgestarrt, wie sie ihre Besorgungen machten, und sich dabei gewünscht, er könnte erraten, was sie sahen, wenn sie ihn anschauten. Er hatte sich gewünscht, erkennen zu können, ob die Leere, das Fehlen jeder Richtung, für sie genau so offensichtlich war wie für ihn. Manchmal hatte er in diesem Frühling neben dem Thron seiner Mutter gesessen, während sie sich mit ihren Ratgebern traf, und darauf gewartet, daß jemand käme und ihn fortschickte, wie sie es immer getan hatten. In diesem Jahr schickte ihn niemand fort. Weil sie sahen, daß er jetzt die Größe eines Mannes hatte? Oder weil sie ihn überhaupt nicht wahrnahmen?
    Seine Fäuste ballten sich. Wenn sie ihn nicht wahrnahmen, wen sahen sie statt dessen? Einen dunklen großen Jugendlichen, dessen Anwesenheit unter ihnen ungewöhnlich war? Einen Jugendlichen, der keinen festen Platz in den sozialen Strukturen des Tales besaß und keinen Weg hatte, der ihn leitete? Scheuchten sie ihn deshalb nicht fort? Weil sie auch keine bessere Idee als er hatten, was man mit ihm anstellen sollte?
    Und wenn sie ihn nicht wahrnahmen, was machte das aus ihm? Ein Produkt der eigenen Vorstellung? Denken ohne Substanz?
    In Zeiten wie dieser überkam ihn eine gewisse Ruhelosigkeit – so wie heute. Wenn er einen Platz einnehmen wollte, mußte er einen Weg finden. Er mußte eine Legende aufbauen, verschieden von all den anderen Legenden des Tales und seiner Familie. Und jetzt war die Zeit, mit der Konstruktion anzufangen. Heute. Er drehte sich mit angespanntem Körper vom Fenster fort. Sein Blick ruhte nur kurz auf den rauhen Steinwänden des Schlafzimmers, verweilte nur wenige Momente bei den Narben und Löchern, die Jahrhunderte hinterlassen hatten. Nur am Rande bemerkte er das orangefarbene Leuchten der Stengellampen, die an den Wänden entlang wuchsen.
    In seinen Gedanken wanderte er schon über die Dammkronen zu dem Obstgarten, wo die Weißmähne weidete. Er spähte bereits zwischen den Bäumen hindurch nach ihrer weißen Erscheinung und gab sich ein Versprechen. Wenn er aufstieg, wenn er die Weißmähne ritt, die noch niemand außer seinem Vater geritten hatte, dann würde seine Legende anfangen. Er würde begreifen, wer er war und wohin das Leben ihn führen mochte. Er hatte keine Ahnung, wie weit und wie lang er reiten würde. Ihn verlangte nur nach dem Gefühl, eine Weißmähne zwischen den Beinen zu spüren.
    Und wenn er jetzt nicht bald auf die Weide ginge, würde er zuviel darüber nachgrübeln und schließlich die Nerven verlieren. Er wappnete sich, schlüpfte aus dem Zimmer und ging den stengelerleuchteten Flur hinunter. Der Palast war ein Ort, an dem die Jahrhunderte in den Steinen lebendig waren, wo Geschichte die Flure pflasterte und sich an den Säulen der Bogengänge emporrankte. Heute ließ er sich nicht davon beeindrucken. Er verschloß sich bewußt gegen die Mythen und Geschichten, die in den Steinen des Palastes fortlebten. Es war nicht seine Geschichte, die hier lebendig war.
    Überhaupt nicht seine. Aber wenn er die Weißmähne ritt, wenn er ein Werk vollbrachte, vielleicht könnte er sie dann zu seiner Geschichte machen.
    Als er den unteren Flur erreicht hatte, machte er im Bogengang vor dem Thronsaal eine Pause. Das Licht, das von den Linsen auf dem Berg abstrahlte, wurde von den Spiegeln reflektiert, die hoch oben an den Wänden des Thronsaals angebracht waren, und bewirkte, daß der Thron glühte. Daniors Schwestern lagen auf bestickten Kissen aneinandergekuschelt vor dem Thron und entzifferten Schriftrollen. Sie waren jünger als er, und sie waren zart gebaut, mit kastanienbraunen Haaren, die eben bis auf die Schultern hinabhingen, und herbstgoldenen Augen. Manchmal blickte er bestürzt auf die zarten Knochen ihrer Handgelenke, auf die Finger, die fast zu zerbrechlich schienen, um mit dem Eßbesteck zu hantieren. Ihre Stimmen waren wie Schleier aus Gelächter.
    Aber sie waren Palasttöchter, und ihre Zerbrechlichkeit war nur scheinbar. Er war es, der seinen Weg nicht finden konnte, während sie nur auf die Gelegenheit warteten, den Sonnenstein zu nehmen und Barohnas auf dem Sonnenthron zu werden.
    Er stand dort und blickte stumm auf sie, und sie bemerkten es nicht einmal.
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