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Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied

Titel: Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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halten. Keva schaute zu; sie zitterte, ihre Kehle war so zugeschnürt, daß sie kaum schlucken konnte.
    Der Nachmittag war fast vorbei, als die Schwellung leicht zurückging, und Lekki begann, wieder freier zu atmen. Die Frauen trugen sie auf einer behelfsmäßigen Tragbahre in Okis Hütte, Oki steckte sie ins Bett, glättete den frischen Breiumschlag auf ihrer Wunde und überredete sie, ein Gebräu mit eingeweichten Blättern zu trinken.
    Später brachten Nachbarn Nahrung, aber weder Oki noch Keva aßen etwas. Beide bewegten sich langsam in der Hütte umher, gefangen von der schweren Müdigkeit, die der Krise gefolgt war. Erst als Lekki schlief und Oki endlich in dämmrigen Halbschlaf am Fußende ihres Bettes sank, erinnerte sich Keva daran, daß sie die Moospfropfen nicht zurück in Okis Versteck gestopft hatte. Keva zögerte, sie sehnte sich nur noch nach ihrem Bett; dann seufzte sie und ging schweigend zur Tür. Oki rührte sich und murmelte etwas, aber sie rief Keva nicht zurück.
    Wieder hatte sich Nebel über dem Strom gebildet, und aus der Ferne hörte Keva das Zischen der Geysire. Unter den Bäumen war der feuchte Geruch des frühen Abends stärker. Keva versuchte matt, ihre früheren dringlichen Gedanken wiederaufzunehmen, gab ihre Bemühungen aber erschöpft wieder auf. Sie fand Okis Baum in tiefem Schatten. Keva kniete nieder, sammelte die verstreut herumliegenden Medizinbündel ein und stapelte sie in der Baumhöhle.
    Sie stieß auf etwas Hartes, das in dem morschen Holz, das Okis Versteck bildete, verborgen war. Ein Stein? Und dann noch etwas, das sich wie Stoff anfühlte – als wäre der Stein in Stoff eingewickelt, in einen Stoff, der so fein gewebt war, daß Kevas Fingerspitzen keine Fäden unterscheiden konnte.
    Sie kauerte auf die Fersen nieder. Ein Stein und Stoff, verborgen –
wie so viele Dinge verborgen waren.
Keva zögerte noch einen Augenblick, dann schloß sich ihre Hand um den Stein und zog ihn aus der Baumhöhle.
    Langsam öffnete sie mit angehaltenem Atem die Hand und wickelte einen schmalen, blauen Tuchstreifen ab. Sie starrte ihn an; ihr Atem wurde flach, und das Herz schlug ihr schwer gegen die Rippen. Par sagte, daß die Frauen aus den Bergen – die Barohnas – einen schwarzen Stein, Sonnenstein genannt, dazu benutzten, das Sonnenlicht einzufangen. Sie trugen Feuermanschetten, die aus dem Sonnenstein geschnitten wurden, und saßen auf einem glühenden schwarzen Thron. Sie benutzten auch andere Steine, die Par nicht so deutlich beschrieben hatte. Stirnrunzelnd blickte Keva auf den Stein hinab, der in dem blauen Stoff eingewickelt gewesen war. Er war dunkelblau, hatte viele Facetten und war in einen matten Metallrahmen eingefaßt. Keva strich über den blauen Stoff, der um den Stein gewickelt gewesen war, dann streichelte sie behutsam den Stein selbst. Er fühlte sich kalt an. Der Stoff war glatt, fast schlüpfrig, und blau wie ein Sommermorgen.
    Das Blau des Liedes. Mit bebenden Fingern glättete Keva den Stoffstreifen, und die Realität nahm eine unvertraute Gestalt an. Der Tuchstreifen war schmutzig, verstaubt, die Kanten waren faserig; aber als sie ihn berührte, erinnerte sie sich so deutlich an das Blaue Lied, so schmerzlich, als ritte sie wieder hinter dem bärtigen Mann und klammerte sich an ihn, während ihr Pferd sie trug – wohin?
    Hierher? Waren sie so lange geritten, nur um hierher zu kommen? Hatte er sie nur hierher gebracht, um sie dann zu verlassen? Keva stand auf; Tränen brannten ihr in den Augen. Als sie den Stoff berührte, kamen ihr Erinnerungen, schwer faßbare Erinnerungen, die sie verletzten.
Warum
war der bärtige Mann –
ihr Vater –
gegangen und nie wiedergekommen, warum ließ er ihr nur verwirrende Erinnerungsbruchstücke zurück?
    Ihre Hand schloß sich um den Tuchfetzen und dann um den eingefaßten Stein. Niemand brauchte ihr zu sagen, daß diese Gegenstände ihr gehörten – vielleicht der einzige Besitz, den sie jemals haben würde. In sie war die Gegenwart des Vaters eingeprägt, sie war davon durchdrungen. Und Oki hatte sie vor ihr versteckt.
    Kevas Hände zitterten. Der Stoffstreifen hatte genau die richtige Länge, um ihn durch die Metalleinfassung des Steins zu ziehen und ihn um den Hals zu binden. Sie fädelte ihn ein, band ihn sich um, und der Stoff schmiegte sich an ihre Kehle, blau und kalt. Kevas Augen brannten.
Es war ihres –
dies gehörte ihr, vielleicht das einzige von den Dingen, die sie besaß, das wirklich das ihre war.
    Sie
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