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Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied

Titel: Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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schöne Geschichte ausspinnen kann; mit Palästen und Obstgärten und Kindern, deren Haar die Farbe des Nebels besitzt.«
    Keva nickte widerwillig. Pars Geschichten waren so gewesen: schön. Aber wenn er den Kindern nichts von den Feuersbrünsten erzählt hatte – ihre Gedanken eilten weiter –, welche Dinge hatte er sonst noch aus seinen Geschichten getilgt? Welche bitteren Wahrheiten? Denn wenn es keine bitteren Dinge gab, warum erwachte sie dann immer mit pochendem Herzen und entsetzt, wenn sie vom Feuer in den
    Bergen geträumt hatte? Und der bärtige Mann – gab es auch häßliche Dinge, die man über ihn erzählen konnte? über die Menschen, von denen er abstammte?
    Von welchen Menschen mochte er abstammen? Keva preßte die Hände an die Schläfen, und ihre Gedanken scheuten instinktiv zurück. »Er ist einer von ihnen«, machte sie sich mit lauter Stimme klar. »Par hat uns erzählt, daß die Barohnas dunkel und groß sind; und der Mann, mit dem ich ritt, war dunkel und groß. Er war mit ihnen verwandt.« Und da er dunkel war und nicht hellhäutig, war er kein Sklave, sondern ein Herr – eine häßliche Sache, für sich betrachtet, wenn das, was Oki erzählte, der Wahrheit entsprach. Wenn die Barohnas ihr Feuer nicht nur dazu verwandten, Täler zu erwärmen und den Boden aufzutauen, damit gepflanzt werden konnte, sondern als Waffe.
    Und wenn sie mit ihm geritten wäre, in seiner Fürsorge, unter seiner Obhut ...
    Okis plumpes Gesicht zog sich zusammen. »Es gab keinen bärtigen Mann. Dein Vater war ein Weedfischer. Deine Mutter baute ihre Hütte stromaufwärts von der meinen aus, als ich in dem Dorf im Süden lebte. Und ich war zur Stelle, um die Nabelschnur abzubinden, als zu geboren wurdest. Eines Tages gingen sie zum Wasser ...«
    »Nein.« Keva unterbrach die wohlbekannte Litanei. Die Geschichte von ihrer Geburt und dem Tod ihrer Eltern bedeutete ihr jetzt nicht mehr als sonst. Sie konnte sich nicht an das Dorf im Süden erinnern, von dem Oki behauptete, sie sei dort zur Welt gekommen.
    Aber wenn sie die Augen schloß, konnte sie das stampfende weiße Roß des bärtigen Mannes zwischen ihren Schenkeln spüren, konnte ihn sehen, wie er sich über den Nacken des Tieres beugte, das dunkle Haar über einem Ohr geknotet – konnte das Lederzeug riechen, das er trug.
    Der Weedfischer, der ihr Vater gewesen war? Bei den wenigen Erinnerungen, die sie an ihn hatte, hätte er ebensogut niemals existiert haben können.
    Hatte er existiert?
Sie holte Luft und spähte zu Oki hoch. Wenn Par Geschichten erzählte, die nicht ganz der Wahrheit entsprachen, wie war es dann mit Oki? Hatte ihr Oki die Wahrheit gesagt, wenigstens einen Teil davon? Oder hatte sie ihr ein Gebilde aus wohldosierten Lügen aufgetischt?
    Kevas schneidender Blick schnitt Oki wie eine Klinge und raubte ihr den Atem. Ihre schmutzigen Hände sanken hinab, ihre Gesichtszüge sackten zusammen und verloren ihre harte Entschlossenheit. Unter der Hautoberfläche wurde sie grau.
    Doch bevor sie ihre Fassung wiedergewinnen konnte, bevor Keva ihre eigenen Gedanken zu einem logischen Abschluß bringen konnte, erklang ein Schrei von den weiter entfernten Bäumen. Keva drehte sich um, als weitere Rufe folgten, die den Alarm weitergaben. Oki wischte die schmutzigen Hände an den Hosen ab, die graue Farbe im Gesicht vertiefte sich. Sie zögerte nur einen Moment, mit verzogenem Mund, dann drehte sie sich um und lief schwerfällig dem Geschrei entgegen.
    Keva zögerte, dann lief sie ihr nach. Während sie lief, reimte sie sich anhand der Stimmen, die den Alarm zwischen den Bäumen weitergaben, zusammen, was geschehen war. Die Käferjäger hatten sich an der lockeren Rinde einer uralten grauen Erle zu schaffen gemacht, als eine Spinne aus ihrem Nest geschossen war und die giftigen Zangen in einen der Jäger geschlagen hatte. Der Name, der zwischen den Bäumen zurückgerufen wurde, war der Name Lekkis.
    Lekki!
Keva bekam nur schwer Luft, und ihr Blut schlug in ahnungsvoller Aufregung. Lekki, ihre Halbschwester, Lekki mit ihrem verschmitzten Lächeln und dem ungebändigten Haar ...
    Die Schwellung hatte bereits begonnen, als Keva und Oki die grauen Erlen erreichten. Lekki schlug blind nach allen Händen; ihr Haar war schweißverklebt und verfilzt, das gestochene Bein dick angeschwollen. Die Augen waren halbgeöffnet, aber jetzt gab es kein verschmitztes Leuchten in ihnen, überhaupt kein Bewußtsein. Keva machte sich mit einem schmerzlichen Schluchzen Luft. Sie
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