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Staub

Staub

Titel: Staub
Autoren: Patricia Cornwell
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Falte, jede Narbe und Linie und die zarten Rillen in seinen kleinen, abgerundeten Nägeln zu mustern. Er massiert die Luft und sieht dem Spiel der feinen Muskeln zu, während er sich vorstellt, wie er kalte Haut reibt, kaltes, träges Blut aus dem Unterhautgewebe herausknetet und das Fleisch bearbeitet, bis er den Tod vertrieben hat und ein hübscher rosiger Schimmer entsteht. Der Baseballschläger zuckt in seiner anderen Hand, und er malt sich aus, wie er ihn schwingt. Er vermisst es, kalkigen Staub zwischen den Handflächen zu reiben und mit dem Baseballschläger auszuholen, und er bebt vor Begierde, ihn in das Auge an der Wand zu rammen. Aber er tut es nicht. Er kann nicht und er darf nicht, und als er hin und her geht, rast das Herz in seiner Brust. Das Durcheinander erfüllt ihn mit ohnmächtiger Wut.
    Das Durcheinander existiert, obwohl die Wohnung leer ist. Die Arbeitsfläche in der Küche ist mit Papierservietten, Plastiktellern, Konservendosen und Tüten mit Makkaroni und Spaghetti bedeckt, weil Pogue sich noch nicht die Mühe gemacht hat, die Sachen in dem einzigen Küchenschrank zu verstauen. Ein Topf und eine Bratpfanne sind in einem mit kaltem, fettigem Wasser gefüllten Spülbecken eingeweicht. Auf dem fleckigen blauen Teppich liegen Reisetaschen, Kleidungsstücke, Bücher, Bleistifte und Papier herum. In Pogues Zweitwohnsitz macht sich allmählich der abgestandene Geruch nach seinen Kochkünsten, den Zigarren und seinem muffigen Schweiß breit. Es ist sehr warm hier drin, und er ist nackt.
    »Ich glaube, wir sollten nach Mrs. Arnette sehen. Schließlich geht es ihr nicht gut«, sagt er zu seiner Mutter, ohne sie anzuschauen. »Hättest du heute gern Besuch? Ich frage dich lieber vorher. Doch es würde uns beide sicher aufheitern. Ich bin ein bisschen niedergeschlagen, wie ich zugeben muss.« Er denkt an den kleinen Fisch, der entkommen ist, und betrachtet das Durcheinander ringsum. »Besuch wäre da doch genau das Richtige, was meinst du?«
    Das wäre schön.
    »Ach, wäre es das?« Seine Baritonstimme hebt und senkt sich, als spräche er mit einem Kind oder einem Haustier. »Hättest du gern Besuch? Also gut! Das ist ja fabelhaft!«
    Seine nackten Füße tappen über den Teppich. Dann geht er vor einem Pappkarton voller Videobänder, Zigarrenkisten und Umschlägen mit Fotos in die Hocke, die alle seine kleine ordentliche Handschrift tragen. Fast ganz unten im Karton findet er Mrs. Arnettes Zigarrenkiste und den Umschlag mit den Polaroid-Fotos.
    »Mutter, Mrs. Arnette ist da, um dich zu besuchen«, sagt er mit einem zufriedenen Seufzer, während er die Zigarrenkiste öffnet und sie auf den Liegestuhl stellt. Er schaut die Fotos durch und greift nach dem, das ihm am besten gefällt. »Du erinnerst dich doch noch an sie, oder? Ihr seid euch schon einmal begegnet. Eine alte Dame, wie sie im Buche steht. Schau, sie hat sogar bläulich getönte Haare.«
    Ja, das hat sie wirklich.
    »Jadashassiewillich«, ahmt er die schleppende Sprache und das schwerzüngige Lallen nach, mit dem sie sich durch die Wörter kämpft, wenn sie wieder einmal viel zu tief in die Wodkaflasche geschaut hat.
    »Gefällt dir ihre neue Schachtel?«, fragt er, während er den Finger in die Zigarrenkiste steckt und ein Wölkchen Staub in die Luft pustet. »Jetzt sei nicht neidisch, aber sie hat abgenommen, seit du sie zuletzt gesehen hast. Ich frage mich, wie sie das bloß anstellt«, neckt er, steckt wieder den Finger hinein und pustet noch mehr Staub in die Luft, damit seine abstoßend fette Mutter es auch sehen kann und neidisch wird. Dann wischt er sich die Finger mit dem weißen Taschentuch ab. »Ich glaube, unsere liebe Freundin Mrs. Arnette sieht wirklich absolut hinreißend aus.«
    Er mustert das Foto von Mrs. Arnette, deren Haar das rosige tote Gesicht umgibt wie eine bläuliche Aura. Dass ihr Mund zugenäht ist, weiß er nur deshalb, weil er sich daran erinnert, es selbst getan zu haben. Ansonsten ist sein fachkundiger chirurgischer Eingriff kaum zu erkennen. Ein Außenstehender würde nie vermuten, dass die runde Form ihrer Augen durch die Kappen unter ihren Lidern zustande kommt. Er weiß noch, wie er die Kappen sanft auf die eingesunkenen Augäpfel gelegt und sie mit Vaselineklecksen befestigt hat.
    »Und jetzt sei nett und frag Mrs. Arnette, wie sie sich fühlt«, sagt er zu der Keksdose unter dem Liegestuhl. »Sie hatte Krebs. Das hatten so viele von ihnen.«
    3
    Dr. Joel Marcus begrüßt Scarpetta mit einem steifen
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