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Staub

Staub

Titel: Staub
Autoren: Patricia Cornwell
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seinem Arzt erzählen, denkt er und spürt leichte Schmerzen. Ja, sein Arzt wird der Erste sein, der es erfährt, und dann wird ihm beim nächsten Mal nicht der Grippe-Impfstoff ausgehen, denkt Pogue, diesmal mit einem Anflug von Furcht. Kein Arzt der Welt würde einem Patienten mit Wohnsitz in Hollywood die Grippe-Schutzimpfung verweigern, ganz gleich, wie knapp der Impfstoff auch sein mag, sagt sich Pogue, nun ein wenig erbost.
    »Siehst du, liebe Mutter, wir sind hier. Wir haben es tatsächlich geschafft. Es ist kein Traum«, sagt Pogue in der verwaschenen Sprechweise eines Menschen, der einen Gegenstand im Mund hat, welcher die Bewegungen seiner Lippen und der Zunge hemmt.
    Seine ebenmäßigen gebleichten Zähne schließen sich fester um den hölzernen Bleistift.
    »Und du hast gedacht, dieser Tag würde niemals kommen«, fährt er trotz Bleistift fort, sodass ein Speicheltropfen über seine Unterlippe tritt und das Kinn hinabrinnt.
    Aus dir wird nie etwas werden, Edgar Allan, Versager, Versager, Versager. Er spricht mit dem Bleistift im Mund und ahmt den tückischen Tonfall und das betrunkene Lallen seiner Mutter nach. Du bist eine Flasche, Edgar Allan, genau das bist du. Verlierer, Verlierer, Verlierer.
    Sein Liegestuhl steht mitten in dem stickigen, übel riechenden Wohnzimmer seiner Zwei-Zimmer-Wohnung im ersten Stockwerk des Häuserblocks, der an der Garfield Street liegt. Die Straße ist nach einem amerikanischen Präsidenten benannt und verläuft in ostwestlicher Richtung parallel zum Hollywood Boulevard und zur Sheridan Avenue. Der blassgelb verputzte einstöckige Komplex trägt aus unbekannten Gründen den Namen Garfield Court. Es gibt hier keinen Garten, nicht einmal einen einzigen Grashalm, nur einen Parkplatz und drei schwindsüchtige Palmen mit zotteligen Wedeln, die Pogue an die rissigen Flügel der Schmetterlinge erinnern, die er als Kind auf Pappe gespießt hat.
    Nicht genug Saft im Stamm. Das ist dein Problem.
    »Hör auf, Mutter. Hör sofort auf. Du sollst so was nicht sagen.«
    Als Pogue vor zwei Wochen seinen Zweitwohnsitz mietete, hat er nicht um den Preis verhandelt, obwohl neunhundertfünfzig Dollar im Vergleich dazu, was er in Richmond für dieses Geld kriegen würde, der reinste Wucher ist. Allerdings zahlt er in Richmond keine Miete. Doch es ist nicht einfach, hier in dieser Gegend eine passende Wohnung zu finden, und als er nach einer sechzehnstündigen Fahrt endlich in Broward County ankam, wusste er nicht, wo er zu suchen anfangen sollte. Erschöpft, aber aufgedreht, war er herumgefahren, um sich zu orientieren und nach einer Unterkunft Ausschau zu halten. Er hatte keine Lust, sich mit einem Motelzimmer zu begnügen, nicht einmal für eine Nacht. Sein alter weißer Buick war mit seinen Habseligkeiten voll gepackt, und er wollte nicht das Risiko eingehen, dass irgendein jugendlicher Rotzlöffel die Wagenfenster einschlug, um seinen Videorecorder und den Fernseher zu stehlen – ganz zu schweigen von seinen Klamotten, seinen Kosmetiksachen, dem Laptop, der Perücke, dem Liegestuhl, der Lampe, der Bettwäsche, den Büchern, dem Papier, den Stiften, den Flaschen roten, weißen und blauen Lacks zum Nachlackieren seines heiß geliebten Kinder-Baseballschlägers und einiger anderer lebenswichtiger Dinge, einschließlich der alten Freunde.
    »Es war schrecklich, Mutter«, erzählt er die Geschichte noch einmal, um sie von ihrem betrunkenen Genörgel abzuhalten. »Bestimmte Umstände erforderten, dass ich unser reizendes kleines Südstaatenstädtchen sofort verließ, wenn auch nicht für immer, ganz gewiss nicht. Nun habe ich einen Zweitwohnsitz und werde natürlich zwischen Hollywood und Richmond hin- und herpendeln. Wir beide haben doch schon immer von Hollywood geträumt, wohin wir uns wie Siedler im Planwagentreck auf den Weg machen wollten, um unser Glück zu finden.«
    Sein Trick funktioniert. Er hat es geschafft, ihre Aufmerksamkeit auf die Reise durch eine malerische Landschaft zu schicken, sodass ihm eine erneute Tirade über sein Versagen erspart bleibt.
    »Allerdings fühlte ich mich nicht sehr wohl, als ich an der North Twenty-Fourth Street abfuhr und in einem gottverlassenen Slum namens Liberia landete, wo es einen Eiswagen gab.«
    Er spricht mit dem Bleistift im Mund, als wäre es eine Trense. Der Stift ist sein Tabakersatz, weil das Rauchen nicht nur ungesund und eine schlechte Angewohnheit, sondern außerdem auch ziemlich teuer ist. Pogue hat eine Schwäche für Zigarren.
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