Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Staub

Staub

Titel: Staub
Autoren: Patricia Cornwell
Vom Netzwerk:
dass es sich bei den Büchern um alte Bände von Edgar Allan Poe handelt. Er fragt sich, wie viel Hunderte von Dollar diese elegante Zinnschatulle wohl kosten würde, wenn er die gebührenfreie Nummer anruft.
    »Ich sollte einfach anrufen und bestellen«, meint er vergnügt. »Ich sollte es einfach tun, oder, Mutter?« Er neckt sie, als hätte er ein Telefon, sodass er sein Vorhaben gleich in die Tat umsetzen könnte. »Oh, die würde dir gefallen, stimmt’s?« Er berührt die Abbildung der Urne. »Edgar Allans Urne wäre doch was für dich, nicht wahr? Aber erst wenn es was zu feiern gibt, und im Moment läuft es mit der Arbeit nicht so wie geplant, Mutter. O ja, du hast mich sehr wohl verstanden. Ein kleiner Rückschlag, wie ich fürchte.«
    Ein Versager, das bist du.
    »Nein, Mutter, damit hat es überhaupt nichts zu tun.« Kopfschüttelnd blättert er weiter die Zeitschrift durch. »Jetzt fangen wir nicht wieder damit an. Wir sind in Hollywood. Ist es nicht hübsch hier?«
    Er denkt an die lachsfarbene Villa am Wasser, nicht sehr weit nördlich von hier, und wird von verwirrenden Gefühlen ergriffen. Wie geplant hat er die Villa gefunden. Wie geplant ist er dort eingedrungen. Aber dann lief alles schief, und jetzt gibt es nichts zu feiern.
    »Falsch gedacht, falsch gedacht.« Er schnippt sich mit zwei Fingern gegen die Stirn, wie seine Mutter es früher getan hat. »So hätte es nicht laufen dürfen. Was soll ich tun, was soll ich tun? Der kleine Fisch ist entkommen.« Er vollführt Schwimmbewegungen mit den Fingern. »Und hat den großen Fisch zurückgelassen.« Er schwimmt mit beiden Armen durch die Luft. »Der kleine Fisch ist weggefahren, und ich weiß nicht, wohin. Aber das ist mir egal, absolut egal. Denn der große Fisch ist noch da, und ich habe den kleinen Fisch vertrieben. Ganz bestimmt ist der große Fisch nicht glücklich darüber. Ganz bestimmt nicht. Bald wird es was zu feiern geben.«
    Entkommen? Wie doof kann ein Mensch denn sein? Du hast den kleinen Fisch nicht gefangen und glaubst, du könntest den großen kriegen? Was bist du nur für ein Versager! Und so was ist mein Sohn!
    »Red nicht so daher, Mutter. Das ist unhöflich«, sagt er, den Kopf über die Fachzeitschrift für Bestattungsunternehmer gebeugt.
    Sie fixiert ihn mit einem Blick, mit dem man ein Schild an einen Baum nageln könnte. Sein Vater kannte ihren berüchtigten Blick immer: Haare auf den Augäpfeln. Aber Augäpfel haben keine Haare. Nicht soweit er im Bilde ist, und er müsste es eigentlich wissen. Es gibt nicht viel, was er nicht weiß. Er lässt die Zeitschrift zu Boden fallen, erhebt sich aus dem gelb-weißen Liegestuhl und holt seinen Kinder-Baseballschläger aus der Ecke, wo er ihn hingestellt hat. Die geschlossene Jalousie vor dem einzigen Fenster sperrt das Sonnenlicht aus dem Wohnzimmer aus und taucht den Raum in einen angenehmen Dämmerschein, kaum erhellt durch die einsame Lampe auf dem Boden.
    »Sehen wir mal. Was machen wir heute?«, fährt er, immer noch den Bleistift im Mund, fort. Er spricht mit einer Keksdose, die unter dem Liegestuhl steht. Dann überprüft er am Baseballschläger die roten, weißen und blauen Sterne und Streifen, die er nachgemalt hat, und zwar, wenn er nachzählt, genau einhundertelfmal. Liebevoll poliert er den Baseballschläger mit einem weißen Taschentuch. Dann reibt er sich die Hände mit dem Taschentuch ab. Wieder und wieder. »Heute sollten wir etwas ganz Besonderes unternehmen. Ich glaube, ein Ausflug ist angesagt.«
    Er schlendert zur Wand, nimmt den Bleistift aus dem Mund und hält ihn in einer Hand. Den Baseballschläger hat er in der anderen, als er mit zur Seite geneigtem Kopf die ersten Striche einer Skizze auf dem schmuddeligen, beige gestrichenen Rigips betrachtet. Sanft berührt er mit der stumpfen Bleistiftspitze ein starrendes Auge und strichelt die Wimpern dicker. Der Stift ist feucht und steckt zwischen den Spitzen von Zeigefinger und Daumen, während er zeichnet.
    »So.« Er tritt zurück, neigt wieder den Kopf und bewundert das große starrende Auge und den Schwung einer Wange. Der Baseballschläger zuckt in seiner anderen Hand.
    »Habe ich dir schon gesagt, wie hübsch du heute aussiehst? So eine schöne Farbe wirst du bald an den Wangen haben, ganz erhitzt und rosig, als wärst du draußen in der Sonne gewesen.«
    Er steckt sich den Bleistift hinters Ohr, hält sich die Hand nah vors Gesicht und dreht sie mit gespreizten Fingern hin und her, um jedes Gelenk, jede
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher