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Staub

Staub

Titel: Staub
Autoren: Patricia Cornwell
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Geringsten. Wenn sie zu einem Fall hinzugezogen wird, kann sie mitbringen, wen und was sie will.
    Bruce, der Wachmann, wirkt überrascht. »Marino! Heiliger Strohsack, bist du es wirklich? Oder ein Geist aus der Vergangenheit?«
    »Nein, haben Sie nicht«, antwortet Dr. Marcus Scarpetta. Kurz scheint er aus dem Konzept gebracht, und seine Verunsicherung ist so deutlich wahrnehmbar wie das Flügelschlagen eines aufgeschreckten Vogelschwarms. »Ich weiß nicht, ob ich das gestatten kann. Es liegt keine Genehmigung vor.«
    »Mann, na klar bin ich’s und kein Geist«, ruft Marino so laut wie möglich.
    »Wie lange bleibst du in der Stadt?«
    »So lange wie nötig, Mann.«
    Es war ein Fehler, und zwar ein schwer wiegender, denkt Scarpetta. Ich hätte doch nach Aspen fahren sollen.
    »Komm vorbei, wenn du mal Zeit hast.«
    »Klar, Kumpel.«
    »Jetzt reicht es«, zischt Dr. Marcus. »Wir sind hier nicht in einer Bar.«
    Er trägt einen Generalschlüssel zu seinem Königreich an einer Kordel um den Hals und muss sich bücken, um die Magnetkarte an den Infrarotscanner neben einer Tür aus Milchglas zu halten. Dahinter befindet sich der Gebäudeflügel, in dem die Gerichtsmedizin untergebracht ist. Scarpettas Mund ist trocken. Sie schwitzt unter den Achseln und hat ein hohles Gefühl im Magen, als sie diese Abteilung des modernen Gebäudes betritt, an dessen Planung und Finanzierung sie selbst beteiligt und in das sie kurz vor ihrer Kündigung eingezogen war. Das elegante dunkelblaue Sofa mit passendem Sessel, der Couchtisch aus Holz und das Gemälde an der Wand, das eine ländliche Szene darstellt, sind noch dieselben. Im Empfangsbereich hat sich nichts geändert, nur dass die beiden Maispflanzen und die vielen Malven verschwunden sind. Sie hat sich hingebungsvoll um ihre Pflanzen gekümmert, sie gegossen, die abgestorbenen Blätter entfernt und sie umgestellt, wenn sich die Lichtverhältnisse mit den Jahreszeiten änderten.
    »Ich fürchte, Sie können keinen Gast mitbringen«, entscheidet Dr. Marcus, als sie vor einer weiteren verschlossenen Tür stehen. Diese führt in die Verwaltungsbüros und ins Leichenschauhaus, ins Allerheiligste also.
    Wieder wirkt seine Magnetkarte als Sesam-öffne-dich, und die Tür springt mit einem Klicken auf. Er tritt zuerst ein und geht schnell weiter. Das Neonlicht spiegelt sich in den Gläsern seiner kleinen Metallbrille. »Ich bin im Stau stecken geblieben und jetzt spät dran. Wir haben ein volles Haus. Acht Fälle«, fährt er fort, wobei er sich nur an Scarpetta wendet, als wäre Marino nicht vorhanden. »Ich muss sofort in eine Mitarbeiterbesprechung. Wahrscheinlich ist es das Beste, Kay, wenn Sie währenddessen einen Kaffee trinken. Es könnte eine Weile dauern. Julie?«, ruft er einer Sekretärin zu, die unsichtbar hinter einer Trennwand sitzt und die Tastatur ihres Computers unter den Fingern klappern lässt wie Kastagnetten. »Wären Sie so nett, unseren Gästen zu zeigen, wo sie einen Kaffee bekommen?« Dann wendet er sich wieder an Scarpetta: »Machen Sie es sich einfach in der Bibliothek gemütlich. Ich kümmere mich um Sie, sobald ich kann.«
    Die Höflichkeit unter Kollegen würde zumindest gebieten, eine forensische Pathologin, die auf Besuch ist, bei der Mitarbeitersitzung und im Leichenschauhaus willkommen zu heißen, insbesondere dann, wenn sie dem gerichtsmedizinischen Institut, dem sie einst vorgestanden hat, kostenlos ihre Beraterdienste zur Verfügung stellt. Dr. Marcus’ Verhalten ist ein Schlag ins Gesicht. Er könnte Scarpetta genauso gut gebeten haben, seine Wäsche in die Reinigung zu bringen oder auf dem Parkplatz auf ihn zu warten.
    »Ich fürchte, Ihr Gast darf sich nicht hier aufhalten«, stellt er noch einmal klar und blickt sich dabei ungeduldig um. »Julie, und könnten Sie diesen Herrn davor noch zurück in die Vorhalle begleiten?«
    »Er ist nicht mein Gast, und er wartet auch nicht in der Vorhalle«, sagt Scarpetta mit ruhiger Stimme.
    »Pardon?« Dr. Marcus dreht ihr sein kleines, mageres Gesicht zu.
    »Wir sind zusammen hier.«
    »Vielleicht verstehen Sie die Situation nicht ganz«, sagt er spitz.
    »Mag sein. Also reden wir darüber.« Das ist keine Bitte.
    Dr. Marcus zuckt merklich zusammen. »Meinetwegen«, gibt er dann nach. »Setzen wir uns kurz in die Bibliothek.«
    »Entschuldigst du uns einen Augenblick?« Sie lächelt Marino zu.
    »Kein Problem.« Er geht zu Julies Schreibtisch, greift nach einem Stapel Autopsiefotos und lässt sie durch die
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