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Der Zuckerkreml

Der Zuckerkreml

Titel: Der Zuckerkreml
Autoren: Vladimir Sorokin
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    MARFUSCHAS FREUDE
    Durch das von Reif überzogene Fenster stach ein kalter
     Sonnenstrahl – der kleinen Marfuscha gerade in die Nase. Sie klappte die Augen auf
     und nieste. Dass dieser Sonnenstrahl Marfuscha ausgerechnet jetzt wecken musste! Da
     sie doch gerade wieder von dem blauen Zauberwald geträumt hatte und von den
     wieselflinken Zottelgeistern darinnen, die hinter den blauen Bäumen
     hervorblinkerten, mit ihren Feuerzungen züngelten und Leuchtzeichen an die Rinde der
     Bäume malten, Hieroglyphen aus alter, urältester Zeit, so verschnörkelt und
     verzwickt, dass kein Chinese sie kannte; sie waren der Schlüssel zu großen, gar
     schrecklichen Geheimnissen … Von solch
     einem Traum bleibt einem das Herz stehen, und trotzdem träumt man ihn gern.
    Marfuscha strampelte die Decke ab und räkelte sich,
     schaute auf das lebende Bild an der Wand. Und während sie dem Recken Ilja Muromez
     auf seinem langmähnigen Falben Siwka-Burka beim Springen zusah, fiel es ihr ein:
     Heute war Sonntag, der letzte Sonntag im Weihnachtsfestkreis. Weihnachten war noch
     nicht ganz vorbei, wie schön! Die Schule fing zum Glück erst morgen wieder an.
    Eine Woche hatte Marfuscha Ferien gehabt. Eine ganze
     Woche, ohne dass früh um sieben der weiche Wecker geblubbert, die Großmutter sie
     boshaft an den Beinengezogen, der Vater herumgemault, die Mutter
     sie angetrieben und der Ranzen mit der schlauen Maschine die Schultern nach unten
     gezogen hatte.
    Gähnend stieg Marfuscha aus dem Bett. Pochte an die
     hölzerne Trennwand neben sich.
    »Mama?«
    Keine Antwort.
    »Ma-a-a-ma!«
    Nun hörte sie Mama in ihrem Bett hinter der Wand sich
     herumdrehen. »Was ist?«
    »Nix.«
    »Nix? Dann schlaf weiter, du Knalltüte …«
    Aber Marfuscha hatte keine Lust mehr zu schlafen. Sie sah
     auf das vereiste, sonnenüberflutete Fenster – und jetzt, da ihr wieder einfiel, was das heute für ein Sonntag war,
     hüpfte sie ein paarmal in die Luft und klatschte in die Hände: »Juhu! Das Geschenk!«
    Die Sonnenkringel hatten sie darauf gebracht, die
     Eisblumen an der Scheibe: »Heute gibt’s ein Geschenk! Ein schönes Geschenk!«
     Marfuscha juchzte vor Freude. Bekam alsdann einen Schreck.
    »Wie spät mag es sein?!«
    So flink fegte sie nach drüben, auf die andere Seite der
     Trennwand, dass ihre aufgelösten Haare und die Nachthemdzipfel um die Wette
     flatterten, sah nach der Uhr: erst halb zehn. »Gott sei Dank!«, seufzte sie und
     schlug in Richtung der Ikonen ein Kreuz.
    Beschert wurde erst am Abend. Am letzten
     Weihnachtssonntagabend, Punkt sechs!
    »Wieso bist du schon wach?«, fragte Mama unwirsch und
     stützte sich auf.
    Neben ihr lag der Vater und wälzte sich schnaufend, ohne
     aufzuwachen, auf die andere Seite. Spät erst war er gestern vom Markt am Miusser
     Platz heimgekehrt,wo er seine geschnitzten Zigarrenetuis feilbot,
     und hatte noch die halbe Nacht auf dem Stechbeitel herumgehämmert. Er bastelte an
     einer Wiege, denn Marfuscha würde bald ein Brüderchen bekommen …
    Dagegen war die Großmutter auf dem Ofen sofort wach, fing
     an zu husten, zu röcheln und zu spucken. »Heilige Muttergottes, sei uns gnädig und
     vergib uns«, brummelte sie. Und als Marfuscha ihr unter die Augen trat, wurde sie
     gleich angezischt: »Was lässt du kleines Biest deinen Vater nicht schlafen?«
    Auch Großvater in seiner Ecke, hinter der anderen Wand,
     fing zu husten an. Marfuscha verzog sich auf die Toilette. Bloß weg von der
     Großmutter, damit die sie nicht noch an den Haaren zog. Die Großmutter war gemein.
     Der Großvater war gütig und gesprächig. Mama war ernst, aber gut. Der Vater hielt
     meistens den Mund und hatte immer schlechte Laune. Damit war Marfuschas Familie
     komplett.
    Marfuscha verrichtete ihr kleines Bedürfnis, wusch sich
     das Gesicht und blickte in den Spiegel. Sie gefiel sich: das Gesicht rein und weiß,
     ohne Sommersprossen, glatte rote Haare, graue Augen wie Mama, eine kleine Nase
     (keine Stupsnase!) wie Papa, von Großvater die großen Ohren und von Großmutter die
     schwarzen Brauen. Und mit ihren elf Jahren hatte Marfuscha schon einiges auf dem
     Kasten: Sie war gut in der Schule, konnte mit der schlauen Maschine umgehen, schrieb
     blind auf der Tastatur, wusste etliche chinesische Wörter, ging der Mama zur Hand,
     konnte Kreuzstich und Perlenstickerei, sang in der Kirche mit, hatte keine Mühe, die
     Gebete auswendig herzusagen. Pelmeni kneten, Fußboden wischen, Wäsche waschen
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