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StatusAngst

StatusAngst

Titel: StatusAngst
Autoren: Alain de Botton
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Auskunftsbüro in der Pariser rue de Grenelle. Im Fenster baumelte eine Schaufensterpuppe, und die Öffentlichkeit wurde aufgefordert, Traumberichte, wundersame Begebenheiten und ihre neuen Ideen zu Politik, Kunst und Mode beizusteuern. Diese wurden dann getippt und an die Wände geheftet. Antonin Artaud, Leiter des Büros, verkündete: »Verstörte Anhänger brauchen wir viel dringender als aktive Anhänger.«
    Nicht weniger bestrebt, die Bourgeoisie zu provozieren, war der italienische Futurist Filippo Marinetti, der 1932 sein Futuristisches Kochbuch publizierte. Es solle, wie er schrieb, die Essgewohnheiten der Italiener revolutionieren und sie dem kulinarischen Geist des 19.Jahrhunderts entwöhnen, insbesondere der Vorliebe für Pasta (maccheroni al ragù und tagliatelle alla bolognese bezeichnete er als Inbegriffe des bürgerlichen Anachronismus). Wer aber das Kochbuch erwarb, um ihm neue Anregungen zu entnehmen, musste feststellen, dass Marinetti - wie vor ihm Gérard de Nerval und Antonin Artaud — nichts anderes im Sinn hatte, als Erwartungen zu unterlaufen. Etwa mit folgenden Rezepten:
    Erdbeerbusen: »Ein rosa Gericht mit zwei aufgerichteten weiblichen Brüsten, die aus rosigem Quark mit Campari und Brustwarzen aus kandierten Erdbeeren bestehen. Unter der Quarkschicht andere frische Erdbeeren zum Hineinbeißen, die die Vorstellung von der Vermehrung der Brüste vermitteln.«
    Luftspeise: »Ein Gericht, das ich den Hungrigen nicht empfehle. Es besteht aus einem Fenchelscheibchen, einer Olive und einer China-Frucht. Dazu gibt es einen Pappstreifen, auf dem nebeneinander ein Stück Samt, ein Stück Atlas und ein Stück Glaspapier aufgeklebt sind: das Glaspapier — erklärt Fillia - muss man nicht unbedingt essen, es dient nur dazu, mit der rechten Hand darauf wie auf einer Harfe zu spielen und dadurch Empfindungen hervorzurufen, die die Speisen, bevor man sie mit den Lippen berührt, besonders schmackhaft erscheinen lassen, während die Speisen gleichzeitig mit der linken Hand zum Mund geführt werden müssen.«
     
    Würfelgarten: »1) Kleine Würfel von gekochter Sellerie aus Verona, mit Paprika bestreut; 2) Kleine Würfel aus gekochten Karotten, die mit geriebenem Meerrettich bestreut sind; 3) Gekochte Erbsen; 4) Kleine Zwiebeln aus Ivrea, mit gehackter Petersilie bestreut; 5) Kleine Käsestangen. PS.: Die Würfelchen dürfen nicht größer sein als 1 cm 3 .«
     
     

 
6
     
    Die Neigung der Boheme zum Exzess scheint unübersehbar. Es ist nur ein kleiner Schritt von der Originalitätsliebe und dem Werben für eine weniger materialistische Lebenshaltung bis hin zur Überzeugung, dass nahezu alles, was einen Juristen oder Apotheker zu überraschen vermag — von der Krustentier-Runde bis zum Erdbeerbusen-Dessert —, die Sache vorantreibt.
    Als exzessiv muss man schließlich den Enthusiasmus bezeichnen, mit welchem viele Bohémiens die geistigen Belange des Lebens so sehr in den Vordergrund stellen, dass die Vernachlässigung der einfachsten Lebensnotwendigkeiten ihnen einen Kräfte zehrenden Kampf ums Überleben aufzwingt, bei dem mehr Grund besteht, ans leibliche Wohl zu denken, und weniger Gelegenheit, ans geistige, als noch für den umtriebigsten oder am materialistischsten gesinnten Juristen oder Apotheker.
    1844 gründete eine Gruppe utopistischer Bohémiens in Massachusetts die Landkommune Fruitlands; weil ihr erklärtermaßen an Geld oder Arbeit als Selbstzweck nichts lag, wolle sie nur für den eigenen Bedarf produzieren und alle Kraft sonst der Dichtung und Malerei, der Natur und der Liebe widmen. Bronson Aleott, Gründer der Kommune, sah die Mission der Neufarmer im Sein, nicht im Tun. Er und seine Freunde schrieben sich — wie viele Boheme-Zirkel vor und nach ihnen - eine ganze Reihe hehrer Ideale auf die Fahne: Sie trugen keine Baumwollkleidung (Baumwolle wurde von Sklaven geerntet), sie aßen weder Fleisch noch Milchprodukte, und ihre vegetarische Diät beschränkte sich auf Dinge, die in der Luft wuchsen — Rüben und Kartoffeln etwa waren verpönt, weil sie in die Erde hinab wiesen, statt dem Himmel zuzustreben wie Apfel und Birnen.
    Wie vorauszusehen, hatte die Gemeinschaft keinen Bestand. Die Vorbehalte gegen praktische Details führten schon nach dem ersten Sommer zu einem aufreibenden Kampf ums Dasein statt wie geplant den gemeinsamen Studien von Homer und Petrarca. Emerson, der Aleott ein paar Jahre vor der Gründung kennen gelernt hatte, bemerkte über die Pioniere von Fruitlands:
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