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StatusAngst

StatusAngst

Titel: StatusAngst
Autoren: Alain de Botton
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Mensch sollte sich von der Devise leiten lassen: »Mich interessiert nur, was ich tue, nicht das, was die Leute denken.«
    »Ich hoffe, wir hören nie wieder etwas von Konformität und Übereinstimmung«, schloss Emerson seinen Aufsatz. »Mögen diese Worte zu Zeitungsparolen werden und fortan verlacht werden ... Mögen wir uns nie wieder verbeugen und entschuldigen ... mögen wir das glatte Mittelmaß und die erbärmliche Selbstzufriedenheit der Zeit tadeln und bekämpfen.«
    Emersons und Hugos Aufrufe, sich von der Tradition zu lösen, fielen auf fruchtbaren Boden. 1850 gelang Gerard de Nerval ein Befreiungsschlag gegen den guten Ton, indem er sich als Haustier einen Hummer zulegte, den er an einem blauen Satinband durch den Jardin du Luxembourg führte. »Ein Hummer ist nicht lächerlicher als ein Hund«, verkündete er, »oder irgendein anderes Tier, das man spazieren führt. Ich habe eine Schwäche für Hummer. Sie sind friedliche, ernste Kreaturen. Sie kennen die Geheimnisse des Meers, sie bellen nicht, und sie nagen nicht an der Monadenexistenz, wie es Hunde tun. Auch Goethe hatte eine Abneigung gegen Hunde, und er war nicht verrückt.«
    Wer ein großer oder origineller Künstler sein wollte, war es sich schuldig, die Bourgeoisie zu überraschen oder, besser noch, zu schockieren. Als Flaubert seinen Roman Salammbô (1862) beendet hatte, erklärte er, er habe das Buch geschrieben, um:
     
    »1. die Bürger zu ärgern,
    2. empfindliche Leute zu entnerven und schockieren,
    3. die Archäologen zu verwirren,
    4. den Damen unverständlich zu erscheinen und sich
    5. den Ruf eines Päderasten und Kannibalen zu erwerben«.
     
    In den fünfziger Jahren des 19.Jahrhunderts gründeten Pariser Studenten einen Klub in der Hoffnung, damit die »Richter und Apotheker zu brüskieren«. Als besonders wirksames Mittel zum Zweck tauften sie sich »Selbstmörderklub« und gaben ein Manifest heraus, dem zu entnehmen war, dass alle Mitglieder noch vor Erlangen des dreißigsten Lebensjahres von eigener Hand zu sterben gedächten — oder noch ehe sie kahl würden, je nachdem. Nur ein einziger Selbstmord wurde unter den Mitgliedern verzeichnet, aber man betrachtete die Gründung dennoch als Riesenerfolg, nachdem sich ein Politiker in einer Rede vor der Abgeordnetenkammer über diese »unmoralische und gesetzwidrige Ungeheuerlichkeit« echauffiert hatte.
    Die Geschichte der Boheme kennt unzählige solcher Versuche, die braven Bürger zu erschrecken. 1917 rief eine New Yorker Künstlergruppe die »Freie und unabhängige Republik Greenwich Village« aus, die sich der Kunst, der Liebe, der Schönheit und dem Zigarettengenuss widmen sollte. Um die Gründung ihres Separatstaats zu feiern, kletterten die Teilnehmer auf den Triumphbogen des Washington Square, tranken Whisky, ließen Zündplättchen knallen und verlasen eine Unabhängigkeitserklärung, die aus dem in schneller Folge wiederholten Wort »wohingegen« bestand. Ein Mitglied des neuen Staats (der bis zum Morgengrauen bestand) erinnerte sich viele Jahre später: »Wir waren Radikale und zu allem bereit — solange es im Mittelwesten tabu war.«
    Leider gewöhnte sich das Bürgertum in zunehmendem Maße an die Schockwirkungen, die von der Boheme ausgingen, so dass sie zu immer ausgefalleneren Aktionen gezwungen war, wie die weitere Entwicklung im 20.Jahrhundert bezeugt.
    Der intelligente Mensch sei Standard geworden, erklärte der Dada-Gründer Tristan Tzara 1915 in Zürich, doch nun werde die Idiotie knapp. Dada versuche mit ganzer Kraft, überall die Idiotie durchzusetzen. Zu diesem Zweck suchten also Dadaisten gehobene Züricher Restaurants auf und brüllten den Gästen »Dada!« zu. Der Dada-Künstler Marcel Duchamp malte einer Mona Lisa einen Schnurrbart auf und nannte sein Werk L. H. O. O. Q. (Elle a chaud au cul / sie ist heiß am Arsch).
    Der Dada-Dichter Hugo Ball ersann das bedeutungsfreie, mehrsprachige Gedicht Karawane und trug es im Züricher Cabaret Voltaire vor — gekleidet in einen Anzug aus glänzend blauem Karton und einen spitzen Papphut.
    Ziel der Bewegung, so der ehemalige Dadaist Hans Richter, sei gewesen, einen neuen Menschen hervorzubringen, frei von der Tyrannei der Vernunft, der Banalität, der Generale, Heimatländer, Nationen, Kunsthändler, Mikroben, Aufenthaltsgenehmigungen und der Vergangenheit. Die Gemüter zu erregen sei oberstes Gebot gewesen.
     

     

     
    Andere Gruppen folgten. 1924 eröffneten die Surrealisten das Surrealistische
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