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StatusAngst

StatusAngst

Titel: StatusAngst
Autoren: Alain de Botton
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Freitod wählte. 1835 kam in Paris das Stück Chatterton von Alfred de Vigny zur Aufführung, in dem der junge Poet zum Verfechter der Boheme-Philosophie avancierte. Es stellte die Inspiration über die Konvention, Freundlichkeit über den finanziellen Vorteil, Intensität und Wahn über Vernunft und Nutzdenken. De Vignys Botschaft lautete: Begabte, sensible Dichter würden durch die Grobheit des bürgerlichen Publikums fast zwangsläufig zur Verzweiflung, ja in den Selbstmord getrieben.
     

    Die Fotografin Lee Miller mit ihrer Freundin, dem Mannequin Tanja Ramm, im Atelier in Montparnasse, 1931
     

    Henry Wallis, Chattertons Tod, 1855/56
     
    Der Mythos vom verkannten Außenseiter, der dem arrivierten Künstler trotz seiner Erfolglosigkeit unendlich überlegen ist, prägte oder charakterisierte das Leben etlicher großer Bohemiens. Der Dichter Gérard de Nerval, der begabter, wenngleich nicht glücklicher als Chatterton war, erhängte sich 1855, verarmt und geistig umnachtet, im Alter von siebenundvierzig Jahren. De Nerval zog das folgende Fazit der Erfahrungen seiner empfindsamen Generation, deren Talent und Gemütsart nicht in die bürgerliche Welt passten: »Ehrgeiz war uns nicht gegeben ... und der gierige Wettlauf um Stellungen und Ehren vertrieb uns aus der Sphäre politischen Tuns. Es blieb uns nur der Elfenbeinturm des Dichters, in dem wir immer höher stiegen, um uns von der Menge abzusondern. Auf diesen Höhen angelangt, atmeten wir endlich die reine Luft der Einsamkeit; wir tranken Vergessen aus dem goldenen Pokal der Legende; wir waren trunken von Poesie und Liebe.«
    Auch Edgar Allan Poe, der 1849 mit siebenunddreißig starb, war von der Boheme-Legende des noblen Scheiterns infiziert. In seinem Essay über Poe schrieb Baudelaire, dessen Schicksal sei typisch für einen begabten Mann, der gezwungen sei, unter Wilden zu leben. Er geißelte den Grundtenor der öffentlichen Meinung in Demokratien wie den Vereinigten Staaten, wo man keine Gnade kenne, keine Nachsicht erwarten könne, und zog daraus den Schluss, »dass der Dichter keinen ihm gebührenden Platz finden kann, weder in einer demokratischen noch in einer aristokratischen Gesellschaft, weder in einer Republik noch in einer absoluten oder gemäßigten Monarchie«.
    Die Lehre, die Baudelaire aus dem Leben Poes zog, klingt wiederholt in seinen eigenen Dichtungen an, am reinsten vielleicht im Bild seines berühmten flügellahmen Albatros:
     
    Der Albatros
     
    Oft zum Zeitvertreib fangen die Seeleute sich Albatrosse ein, jene mächtigen Seevögel, die als lässige Reisegefährten dem Schiffe folgen, wie es auf bitteren Abgründen seine Bahn zieht.
     
    Kaum haben sie die Vögel auf die Planken gesetzt, so lassen diese Könige der Bläue unbeholfen und verlegen ihre großen weißen Flügel wie Ruder kläglich neben sich am Boden schleifen!
     
    Dieser geflügelte Reisende, wie ist er linkisch und schlaff! Er, unlängst noch so schön, wie ist er lächerlich und hässlich! Der eine neckt seinen Schnabel mit einer Stummelpfeife, der andere ahmt hinkend den Krüppel nach, wie er zu fliegen versucht!
     
    Der Dichter gleicht dem Fürsten der Wolken, der mit dem Sturm Gemeinschaft hat und des Bogenschützen spottet; auf den Boden verbannt, von Hohngeschrei umgeben, hindern die Riesenflügel seinen Gang.
     
    Indem sie den Ausgestoßenen Würde, ja Erhabenheit zusprach, präsentierte die Boheme die säkulare Entsprechung zur christlichen Passionsgeschichte. Der Dichter der Boheme kann von der verständnislosen Menge gequält werden wie ein christlicher Märtyrer, Beweis genug für seine geistige und moralische Überlegenheit. Nicht verstanden zu werden heißt, dass es viel zu verstehen gibt. Nur hindern die Riesenflügel des Dichters Gang.
     

 
5
     
    Das Credo der Boheme von der Unterlegenheit der vielen und ihrer Konventionen paarte sich mit dem Glauben an die Überlegenheit des Einzelnen und folglich einer Begeisterung für den Bruch mit allen Konventionen. »Hinweg mit den Regeln!«, verkündet Victor Hugo im Vorwort zu Hernani (1830). »Denn ein Talent, das seine persönliche Eigenart unterdrückt, ist wie ein Gott, der sich zum Sklaven macht.«
    Ein ähnlicher Schlachtruf hallt durch Ralph Waldo Emersons Essay Selbstvertrauen (1840). »Wer also ein Mann sein will, muss Nonkonformist sein.« Richte man sich in dem, wie man lebe, esse, schreibe, sich kleide, nach den anderen — so Emerson —, nehme man sich bald wie ein Esel aus. Jeder aufrechte
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