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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
Autoren: Christoph Fromm
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beförderte, das nun erst einmal nicht mehr für Ordnung hinter der Front sorgen würde; Rollo hatte dem Mann einen Schulterdurchschuss verpasst. Der SS-Mann wollte Rollo herumreißen, um ihm besser in die Hoden treten zu können.
    Von Wetzland ging dazwischen. »Lassen Sie meine Männer in Ruhe!«
    Der SS-Mann stieß die Hand des Leutnants weg, begriff dann aber trotz seines beachtlichen Alkoholpegels, dass er einen deutschen Offizier vor sich hatte, und musterte ihn mit leicht geöffnetem Mund von oben bis unten. »Die Wichser von der Wehrmacht! Na, auch endlich hergefunden?«
    Von Wetzland war versucht, dem SS -Mann die Faust in die stinkende, stoppelbärtige Visage zu rammen, riss sich jedoch zusammen. »Wo ist Ihr Vorgesetzter Sturmbannführer Roschmann?«
    Der SS-Mann grinste. »Leck mich doch.« Er ließ von Wetzland und seine Leute einfach stehen, half seinem verwundeten Kameraden hoch und verschwand mit ihm im Rauch.
    Der Leutnant bebte vor Wut. Entschlossen ging er den beiden Männern nach, gefolgt vom Rest seines Zugs. Seine Männer waren ziemlich kleinlaut geworden.
    Rollo wischte sich Blut vom Kinn. »Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, Herr Leutnant, legen Sie sich lieber nicht mit denen an! Der SD …«
    Von Wetzland unterbrach ihn wütend: »Das lassen Sie mal meine Sorge sein!«
    Der Qualm lichtete sich ein wenig. Sie erreichten den Dorfplatz. Dort war einiges los. Die letzten männlichen Einwohner wurden gerade von der SD-Einheit in die kleine Kirche auf der anderen Seite getrieben. Ein alter Mann sang auffallend hoch und falsch Liturgien, die offensichtlich das wagnerianische Ohr eines Unterscharführers beleidigten. Er schlug dem Mann mehrere Zähne aus, doch der Alte sang weiter.
    Die Soldaten der Einsatzgruppe waren ausnahmslos betrunken, die Dorfbewohner ohne Ausnahme tot oder verletzt.
    »Werden unsere Kameraden jetzt zu Ihrer Zufriedenheit gerächt?«, fragte Leutnant von Wetzland leise.
    Rollo schwieg.
    »Lasst uns endlich abhauen«, murmelte Fritz.
    »Wir gehen erst, wenn ich es sage.« Von Wetzlands Stimme klang scharf. Es gab nur eine Erklärung für das, was sich hier abspielte. Roschmann musste gefallen sein, und die Reste seiner Einheit hatten in maßloser Wut über ihre Verlus te jegliche Selbstkontrolle verloren.
    Er schnappte sich einen betrunkenen SS -Mann, der, in Selbstgespräche vertieft, an ihm vorbeitorkelte. »Scheiße, immer ich! Wieso ich? Scheiße …«
    Leutnant von Wetzland unterbrach seinen Monolog. »Wer hat hier das Kommando? Wo ist Ihr Vorgesetzter?«
    Der SS-Mann schien sich zu freuen, dass endlich jemand Verständnis für seine Sorgen zeigte. Freundschaftlich legte er die Arme um Fritz’ und Rollos Schultern. »Seit zwei Wochen, jeden Tag, vierzehn Stunden, achtzehn Stunden, Überstunden, die sind wie Läuse, kriegst sie nicht alle hin, aber ich lass mich nicht mehr ficken!« Seine Stimme wurde kläglich. »Ich brauch ’ne Pause, ’ne Pause, Ruhe über alles!«
    Sein Bedürfnis, sich endlich mal auszusprechen, war damit beendet. Er fiel wie ein nasser Sack in eine qualmende Hütte, wo er es wenigstens schön warm hatte.
    Die Kosaken begannen neben ihm liegende Kartoffeln und Rüben einzusammeln. Zwei stritten sich um ein angeschmortes Kruzifix.
    Der Leutnant hörte auf einmal lautes Grölen, gefolgt von Beifall. Es schien vom südlichen Dorfrand zu kommen. In der Hoffnung, vielleicht doch noch einen Verantwortlichen zu finden, ging er mit raschen Schritten in jene Richtung, aus der erneut Beifall zu vernehmen war, bog um eine Ecke – und prallte zurück. Fritz und Rollo liefen gegen ihn, folgten seinem entsetzten Blick.
    Sie sahen eine junge Frau.
    Sie gingen jedenfalls davon aus, dass es eine Frau war, obwohl man vom Gesicht nicht mehr viel erkennen konnte, doch sie hatte lange braune Haare. Der Leutnant war sicher, es waren dieselben langen Haare, auf die er im Wald geschossen hatte, und er erkannte an der Schusswunde in ihrer rechten Schulter, dass er auch getroffen hatte – so wie er auch zu Hause fast immer getroffen hatte, egal, ob Scheibe oder Tontaube, aber das hier war keine Scheibe und keine Tontaube, und er war auch nicht zu Hause, sondern in einer Welt, die es nicht geben durfte und trotzdem gab; denn die junge Frau oder das Mädchen, beziehungsweise das, was von ihm übrig war, wurde gerade von zwei SS-Männern, die auf schwankenden Leitern standen, an die Wand des Schulhauses genagelt.
    Etwas tun, endlich etwas tun, hämmerte es in Hans’
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