Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
Autoren: Christoph Fromm
Vom Netzwerk:
getan. Sie war nur plötzlich weggelaufen, so schnell, dass sie niemals heil durch das Minenfeld gekommen wäre.
    Du konntest mich nicht töten, dachte er, obwohl es besser gewesen wäre. Er kniete neben ihr. Plötzlich schien sie ihm Lichtjahre entfernt. All die anderen, die furchtbaren Bilder, die er in sich trug, schoben sich vor seine Augen.
    Er presste ihr sterbendes Gesicht an seine Brust. Seine Gedanken klammerten sich mit verzweifelter Genauigkeit an jedes Detail. Er spürte, wie sich ihre Lippen bewegten, aber es sprang nur ein dünner Schwall Blut aus dem Spalt, den der Wind auf seine Hände wehte.
    »Ich weiß«, flüsterte er und versuchte bei ihr zu bleiben, wenigstens noch ein paar Sekunden, aber der Sturm riss seine Worte so schnell davon, dass er nicht mehr wusste, was er sprach. »Du wolltest es nicht, du musstest es tun. Dich dafür bestrafen. Selbst die paar Gefühlsfetzen waren zu viel für mich, den Feind.«
    Der Blick ihrer Augen wurde starr. Ärgerlich, beinahe streng wirkte er, als sei dies alles seine Schuld, weil er noch einmal so dumm gewesen war, ihr zu vertrauen.
    Er bemerkte, dass ihr die Holzkette aus dem Mantel gerutscht war, nahm sie an sich und glaubte plötzlich, auf jeder der Perlen eine schöne, unversehrte Miniatur ihres Gesichtes zu sehen. Aber das konnte nicht sein, denn es war längst wieder dunkel, und der Sturm durchdrang seinen Körper und tobte in seinem Kopf, und er begriff erst, dass er neben der Leiche von Gross saß und dass sein bereits verschneites Gesicht und die weggerissenen Beine und die gefrorenen Blutpfützen keine Einbildung waren, als die Leuchtkugeln wieder hochstiegen und das Eis unter neuen Einschlägen zitterte, und Fritz, der ihn bis hierher durch den Schnee gezerrt hatte, ihn weiterzerren wollte.
    Da schrie er ein letztes Mal auf und warf sich über den Toten, presste sein Gesicht auf seines, als könne er ihn so wieder zum Leben erwecken, mit all den Worten, die er ihm zuflüstern wollte. Aber sein Kopf war völlig leer, und er stammelte nur: »Du hast es versprochen, du hast es versprochen, wir gehen zusammen …«
    Plötzlich wurde ihm klar, dass Gross seine Worte nicht mehr brauchte, und seinen Schmerz auch nicht, und sein Gesicht verharrte in regloser Leere, bis Fritz ihm die Stoffmaske wieder überstülpte und ihn weiterzerrte wie einen Gegenstand.

 
     
     
     
     
     
    96
     
     
    Z wei Monate später griff eine deutsche Patrouille in der Nähe von Taganrog zwei verwahrloste Subjekte in russischen Uniformen auf, die wider alle Logik behaupteten, Überlebende aus Stalingrad zu sein. Zunächst hielt man sie für russische Spione. Nach einer telefonischen Überprüfung ihrer Erkennungsmarken stellte sich jedoch heraus, dass es sich tatsächlich um den Pionierleutnant Hans von Wetzland und den Obergefreiten Fritz Reiser handelte. Also stellte man sie nicht an die Wand, sondern veranstaltete für die völlig Erschöpften, Vernehmungsunfähigen eine kleine improvisierte Sektfeier, an der die beiden mit gleichbleibender Apathie teilnahmen. Anschließend schaffte man sie auf einen günstig von der Nachmittagssonne beschienenen Hügel, um sie für die Wochenschau zu filmen.
    An dem sonst relativ ruhige n Frontabschnitt kam es unglücklicherweise ausgerechnet in diesem Augenblick zu einem russischen Artillerieüberfall. Eine der Granaten zerfetzte den kräftiger Wirkenden vor den Augen des anderen, der erheblich verletzt wurde. Dass er mit zerschmetterten Beinen an den Rand des Trichters kroch und immer wieder den Namen Fritz stammelte, erhärtete in den Augen des Offiziers, der dem Unglücksfall beiwohnte, seine Glaubwürdigkeit.
    Besagter Offizier brauchte den Rest des Abends u nd seinen gesamten Alkoholvorrat, um einmal mehr über die Tragik des deutschen Soldatenschicksals in Russland hinwegzukommen. Nur die Hoffnung, für die Entdeckung der beiden Helden mit Heimaturlaub belohnt zu werden, konnte ihn einigermaßen trösten.
    Der überlebende Verletzte wu rde nach einer ersten Notversorgung auf Wunsch seiner Familie in ein Sanatorium in Neubrandenburg verbracht. Dort besuchte ihn gelegentlich seine Verlobte. Sie erkannte ihn nicht mit Sicherheit wieder, aber aus Rücksicht auf die Familie und das ihr vom Schicksal anvertraute hilflose Geschöpf verschwieg sie das vor den Behörden. Sie befand sich bei ihren Besuchen immer häufiger in Begleitung eines jungen Mannes, den sie nie heiratete.
    Der Zustand des Patienten besserte sich kaum. Er blieb an
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher