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Stadt der Schuld

Stadt der Schuld

Titel: Stadt der Schuld
Autoren: Eva-Ruth Landys
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dem unter einem zerknäulten Haufen fadenscheiniger Decken der ausgemergelte Körper eines Erwachsenen zu erahnen war. McGillans Atemzüge waren nur noch ein mühsames, gequältes Rasseln. Vorsichtig ließ Aaron sich auf der Kante des Bettes nieder und zog die Decken beiseite, sodass er seinem kranken Kollegen ins Gesicht sehen konnte. Was er sah, überraschte ihn nicht. Er hatte es geahnt, schon bevor er sich auf den Weg gemacht hatte: William McGillan lag ohne jeden Zweifel im Sterben. Das Gesicht war wachsbleich, eingefallen und wies um Augen und Mund bläuliche Verfärbungen auf. Blutiger Speichel trocknete in den Mundwinkeln und auf den ausgedörrten Lippen des Sterbenden. Seit sie in Manchester lebten, hatte Aaron dergleichen einige Male bei Kranken gesehen, vor allem bei Kindern, die in den Fabriken bei den Spinnrahmen gearbeitet hatten. Die bläulichen Verfärbungen waren Blutergüsse, die sich bei denen, die sich im Endstadium der gefürchteten Spinnerkrankheit befanden, durch das verzweifelte Ringen nach Luft bildeten. Doch die Lungen der Bedauernswerten waren einfach nicht mehr in der Lage, ihre Aufgabe zu erledigen. Am Ende erstickten die Kranken jämmerlich. Jeder wusste im Grunde, dass es der allgegenwärtige Faserstaub der Baumwolle war, der das verursachte. Es begann schleichend, dauerte oft Jahre, doch letztlich führte es zum Tode, wenn einen nicht vorher die Schwindsucht, die Pocken oder irgendeine andere der allgegenwärtigen Seuchen dahinrafften. Nur die Kinder in den Fabriken fielen dieser Arbeitergeißel weit schneller zum Opfer. Man starb jung in Manchester. Nun war also William McGillan an der Reihe. Aaron spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Wut auf diese menschenverschlingende Stadt, auf die Fabrikbesitzer, die ohne Gnade das Letzte aus ihren Arbeitern herauspressten und ihnen dafür einen lächerlichen Hungerlohn bezahlten, der nicht einmal annähernd reichte, um die Familien zu ernähren. Wut auf diese ganze verdammte Ungerechtigkeit. Er musste sich zusammennehmen, um nicht aufzuschreien. Stattdessen legte er behutsam seine Hand auf die Brust des sterbenden Mannes und spürte schweigend dem letzten Rest von Leben nach. Nach einer Weile verebbte das leise Keuchen. Stille kehrte ein. McGillan, der Mann, den er einen Freund genannt und mit dem er viele Monate Seite an Seite gearbeitet hatte, war tot.
    Aaron hätte gerne mehr Trauer darüber empfunden, aber in ihm fühlte sich alles sonderbar starr an. Schließlich wandte er sich doch nach Cathy um, die immer noch die Arme um Ruth geschlungen hatte und sie sanft hin und her wiegte. Es bedurfte keiner Worte. Cathy erkannte auch so, dass William McGillans Zeit soeben abgelaufen war.
    »Ruth, ihr Mädchen, und du, Junge, wie ist dein Name?«, sagte sie.
    »William«, antwortete der Knabe schüchtern mit furchtsam aufgerissenen Augen.
    »William«, sagte Cathy und sah ihn ernst an, »jetzt bist du der Mann im Haus. Euer Vater ist nun an einem besseren Ort.« Einen Augenblick erstarrte Ruth, dann entwand sie sich Cathys Armen, sprang auf und begann laut zu schreien – fassungslos, hilflos. Aaron verließ seinen Platz bei dem Toten, kam zum Tisch und nahm die außer sich Geratene nun seinerseits fest in den Arm. Einen Augenblick wehrte sie sich verzweifelt, dann ergab sie sich. Ihr Schreien ging in leises Schluchzen über.
    Cathy ging an Aarons statt zum Bett und schloss dem Toten die Augen, bettete ihn mit sanfter Hand und breitete dann das fleckige Laken über den Leichnam. Dann winkte sie das ältere der Mädchen heran. »Geh hinauf und sieh nach deinen Geschwistern. Sie sollen auch vom Vater Abschied nehmen. Wascht euch vorher die Hände und das Gesicht, wenn ihr Wasser in der Nähe habt, und kommt wieder her. Hast du verstanden?« Das Mädchen nickte stumm, offenbar erleichtert, (lass für den Augenblick die beiden Fremden die Dinge in die Hand nahmen.
    Es dauerte nicht lange, dann hatte sich die Nachricht vom lade McGillans in der Hausgemeinschaft herumgesprochen. Immer mehr Leute drängten sich in den Kellerraum hinunter, um einen letzten Blick auf den Toten zu werfen. Einige mitfühlende Seelen spendeten kleine Kerzenstummel für die Aufbahrung und ein frisches Laken. Eine ältere Frau brachte sogar ein sauberes Leinenhemd für die Beerdigung. Immerhin sollte William McGillan angemessen und würdig seinen Weg ins Armengrab antreten.
    Cathy und Aaron verabschiedeten sich schließlich von der Witwe. Draußen auf der Straße lehnte sich Cathy
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