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Stadt der Schuld

Stadt der Schuld

Titel: Stadt der Schuld
Autoren: Eva-Ruth Landys
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bis mein Gemahl geruht, von seinen Verpflichtungen heimzukehren. Du brauchst dir um mich keine Gedanken zu machen.«
    »Ich danke dir für dein Verständnis. Vielleicht gelingt es mir ja doch noch, rechtzeitig heimzukommen.« Er zog seinen Gehrock über. »Ich werde dir durch einen Boten eine Nachricht zukommen lassen, wenn es dir recht ist.«
    Isobel ließ sich wieder in die Kissen zurücksinken. »Ja, geh nur, geh!« Sie seufzte und wedelte mit der Hand. »Ich rechne allerdings nicht mit dir.«
    Havisham schloss die Tür hinter sich und eilte die breite Treppe hinunter. Er empfand eine schon fast beschämende Erleichterung, Isobel entkommen zu sein.
    »Sir, Sie wollen noch ausgehen?« Blidge, sein Kammerdiener, kam ihm beflissen auf halbem Wege entgegen. Selbstverständlich hatte er sich dezent zurückgezogen, als sein Herr, wie so häufig, mit der Herrin in deren Schlafzimmer verschwand, war aber wie immer sofort auf dem Posten, wenn er gebraucht wurde.

    »Ja, ich habe noch vor, in den Reform Club zu gehen. Würden Sie 8 dem Kutscher Bescheid geben?Sagen Sie ihm, er soll den Brougham 9 anspannen und vorfahren«, antwortete Havisham.
    »Sehr wohl, Sir!«, antwortete Blidge. Mit keiner Regung seiner Miene ließ er sich anmerken, was er über das immerhin unübliche Verhalten seines Herrn dachte. Die häufigen Besuche im Schlafzimmer der Herrin – sogar tagsüber! –, begleitet von seltsamen, ja verstörenden Geräuschen, die durch die sorgsam abgeschlossene Tür drangen, führte seit geraumer Zeit zu Getuschel in den unteren Bereichen des Hauses. Getuschel, das nicht einmal mehr Mrs Branagh, die seit dem Umzug der Herrschaften von Whitefell nach London dem Hause Havisham vorstand, zu unterdrücken vermochte. Blidge hatte beobachtet, dass Harriet, die neue Zofe der jungen Herrin – es war bereits die dritte, denn Isobel Havisham erwies sich als äußerst ungnädig mit ihrem Personal –, Mrs Branagh einmal auch ein völlig zerrissenes Untergewand gezeigt und dann im Flüsterton etwas berichtet hatte, das Mrs Branagh, die sonst ein Ausbund an Selbstbeherrschung war, entsetzt die Augenbrauen hatte hochziehen lassen. Am selben Tag hatte die Haushälterin die Dienerschaft jedoch in einer Ansprache darauf hingewiesen, dass sie sich jeglichen Kommentar über die Vorgänge im Hause – welcher Art diese auch sein mochten – ausdrücklich verbitte. Jeder, der sich nicht daran halte, habe mit seiner sofortigen Entlassung zu rechnen. Das hatte das Getuschel deutlich begrenzt. Ganz unterdrücken ließ es sich jedoch trotz allem nicht, sonst hätte schon die Hälfte des Personals entlassen werden müssen.
    Nachdem Blidge die Anweisung für den Kutscher an einen der Hausdiener weitergegeben hatte, kam er zurück, den wärmeren Herbstmantel über den einen Arm gebreitet, Zylinder und Gehstock seines Herrn in der anderen Hand. Mr Havisham wartete ungeduldig auf ihn in der großen Empfangshalle des repräsentativen Hauses. Mit geübten Bewegungen half Blidge seinem Herrn in den Mantel, nicht ohne noch einen prüfenden, aber unnötigen Blick auf die Kleidung seines Arbeitgebers zu werfen, die auch ohne seine Mithilfe perfekt angelegt worden war.
    Havisham streckte die Hand aus, ohne ihn anzusehen. »Die Handschuhe, Blidge! Na, wird's bald? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
    Bligde beeilte sich, seinem Herrn das Gewünschte zu reichen. Offenbar war man verstimmt.
    »Es könnte spät werden«, teilte ihm der Herr nun mit, als er sich umwandte, um einen letzten prüfenden Blick in den großen Spiegel über dem gewaltigen Kamin in der Eingangshalle zu werfen.Seine Erscheinung war jedenfalls als sehr respektabel, ja gut aussehend zu bezeichnen. Mr Havisham war von stattlicher Gestalt, gut und gerne sechs Fuß groß 10 . Das Gesicht mit der breiten Stirn über den hellen, intelligent blickenden Augen, der markanten Nase und der kräftigen Kieferpartie wurde von einem blonden Backenbart, wie es der derzeitigen Mode entsprach, eingerahmt. Das rötlich-blonde Haar war voll, kräftig und neigte zu störrischen Locken. Ein Umstand, dem Blidge in der Regel mit Pomade beizukommen vermochte, jetzt wirkte es allerdings nicht ganz so akkurat wie sonst, was aber durchaus einen gewissen Reiz hatte. Blickte Mr Havisham streng, so wie jetzt, hatte seine Erscheinung etwas wirklich Aristokratisches und da störte der kaum wahrnehmbare Bauchansatz, den sein Besitzer zudem durch gut geschnittene Kleidung zu verbergen wusste, nicht im
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