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Splitternest

Titel: Splitternest
Autoren: Markolf Hoffmann
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es. Über den Kreidefelsen rann kein Wasser, sondern Blut. Zähes, dunkelrotes Blut. Es drang nicht aus den Leichen der Priester, sondern aus dem Felsspalt. Und zu ihren Füßen grollte der Felsen … ein Stöhnen aus der Tiefe.
    »Suul! Es ist Suul!« Der Bootsmeister erbleichte. »Der Riese erwacht!«
     
    In den Frondörfern der Bucht von Imris erzählte man sich die Legende von Suuls Tod wie folgt:
    Einst lebte auf den Gletschern von Aroc ein freundlicher Riese namens Suul. Er war den Menschen zugetan, und da er über Eis und Schnee gebot, half er ihnen, in der Kälte zu überleben. Sein Atem besänftigte den Zorn des Sturmgottes, zähmte die Springfluten des Meergottes und hielt die Wolken von Aroc fern, damit sich die Menschen in Agihors Sonnenstrahlen wärmen konnten. Er half ihnen auch, die Bucht von Imris zu besiedeln, indem er mit seinen Fäusten das Eis zertrümmerte und den heißen Quellen den Weg zur Erdoberfläche ebnete. Friedlich lebte Suul mit den Menschen zusammen … bis der Zauberer Durta Slargin in Gestalt eines Eisbären nach Aroc schwamm. Er zerfleischte den Riesen, als dieser sich auf einem Kreidefelsen zum Schlafen niedergelassen hatte. Suuls Körper sank auf Aroc nieder, und die Quellen der Bucht versiegten. Nur in Imris sprudelten sie noch aus dem Boden, so dass allein diese Stadt wachsen und gedeihen konnte. Bald zwang sie die umliegenden Dörfer zum Frondienst. Durta Slargin aber herrschte hundert Jahre lang als grausamer Despot in Imris, ehe er sich in die Sphäre zurückzog.
    In der Stadt war diese Fassung der Legende streng verboten; wer sie zu erzählen wagte, wurde von den Rittern der Neun Pforten zu den heißen Quellen geschleift und hineingestoßen. Dann schälte sich die verbrühte Haut von den Leibern der Verurteilten, und ihre Schreie gellten stundenlang von den Kreidefelsen. Doch auch diese Hinrichtungen ließen die Legende nicht verstummen. Sie half den Dorfbewohnern, nicht die Hoffnung zu verlieren, eines Tages die Fron abzuschütteln.
     
    Der Felsvorsprung war grau und zerklüftet. In den Steinritzen funkelten Eiskristalle. Mit beiden Händen wollte sich Talomar Indris emporziehen. Doch die Finger glitten ab, der linke Handschuh zerriss. Er drohte den Halt zu verlieren. Dann aber packte ihn eine kräftige Hand und zerrte ihn empor.
    »Suuls Nacken stößt uns von sich«, keuchte Gubyr. »Er will unseren Tod.« Das Gesicht des Candacarers war gerötet. Der Aufstieg kostete Kraft, der schneidende Wind und die Kälte taten ihr übriges. Vor allem Talomar Indris war vollkommen ausgelaugt. Mehr als einmal war er auf dem vereisten Pfad ausgerutscht.
    »Lass uns kurz verschnaufen«, bat er Gubyr. Er spähte über den Abgrund. »Der Pfad … ich kann ihn nicht mehr sehen. Nur das Schneetreiben … und die Felsen bewegen sich! Der Hang rutscht ab!«
    Gubyr riss ihn von der Kante zurück. »Sieh nicht dorthin. Die Quelle verzerrt deine Sicht. Sie will uns Furcht einflößen.« Er betrachtete Talomars zerrissenen Handschuh. Zwischen den Fetzen quoll Blut hervor und tränkte das goldgestickte Emblem. »Nimm dich in acht! Auf dem Gipfel darf kein Tropfen Blut vergossen werden. Die Klaue würde es wittern.«
    »Du weißt viel über sie.« Talomar presste sich mit dem Rücken gegen die Felswand. »Wie kommt es eigentlich, dass der Priester dich zum Herz der Quelle schicken wollte?«
    »Ich bin schon einmal oben gewesen. Ich begleitete einen der Priester zum Gipfel … den letzten, der die Gefahr auf sich nahm. Nur mit Mühe konnten wir uns dem Griff der Klaue entwinden.« Er beobachtete, wie Talomar seinen Handschuh abstreifte. »Du hast Glück, es ist nur ein kleiner Schnitt. Hier hast du ein Tuch, um die Hand zu verbinden.«
    »Du hast meine Frage nicht beantwortet. Noch nie hat die Kirche einen Ritter der Neun Pforten zur Quelle entsandt.«
    »Haben es die anderen dir nicht gesagt?« Gubyr ließ sich neben Talomar auf dem Felsvorsprung nieder. »Ich floh aus Candacar, als die Goldéi mein Land unterjochten. Ich habe lange in König Cardors Heer gegen die Echsen gekämpft … aber nicht mit dem Schwert. Ich war ein Mönch der Solcata-Loge.«
    »Das erklärt einiges. Dein Wissen über die Sphäre ist zu groß für einen gewöhnlichen Ritter.« Talomar wickelte das Tuch um die verletzte Hand und stülpte sich den Handschuh über. »Du bist also ein Zauberer. Aber wie wurdest du zu einem Ritter der Neun Pforten?«
    »Die Solcata stand schon lange in Verbindung mit dem Orden. Sie hat sich
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