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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt
Autoren: Lilly Lindner
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Jacke nicht ordentlich aufgehängt habe, weil ich irgendeinen Schwamm nicht fest genug ausgewrungen habe, weil ich meine Zimmertür zugemacht habe und mich von der Familie (sein Lieblingswitz) entfernen würde, weil ich weniger ich sein soll und was weiß ich noch alles.
    Meine Mutter schafft es währenddessen, mich mit ihren Stimmungsschwankungen in den Wahnsinn zu treiben. Sie hasst mich, weil ich keine Querflöte spielen kann, sie liebt mich – einfach so. Sie hasst mich, weil ich zu laut bin, sie liebt mich – aus Pflichtgefühl. Sie hasst mich, weil ich da bin. Sie liebt mich – weil ich mein Bett so ordentlich gemacht habe. Sie hasst mich, sie hasst mich, sie hasst mich.
    Ich stehe vor dem Spiegel und hasse mich auch. Ich bin vierzehn Jahre alt, 1 , 64 groß, wiege 56  Kilo und fühle mich wie ein überdimensionaler Hefeklops.
    Den restlichen Teil meiner Freizeit verbringe ich damit, über die schnellste und schmerzloseste Möglichkeit, Suizid zu begehen, nachzudenken. Leider bin ich ein Weichei und kriege es einfach nicht hin, mir die Pulsadern vernünftig aufzuschlitzen; das Ergebnis ist jedes Mal eine blutige Sauerei, Kopfschmerzen, Armschmerzen, ein verschmiertes Skalpell – und ich bin noch genauso am Leben wie vorher. Schließlich versuche ich es mit Luftanhalten, denn ich bin der Meinung, wenn man es nur fest genug will, dann kann man einfach sterben, weil die Seele aufgibt. Abend für Abend liege ich in meinem Bett und halte die Luft an, bis mir schwindlig wird und sich alles dreht. Am Ende habe ich dann jedes Mal Halluzinationen, Herzrumpeln und keine Lust mehr. Aber tot bin ich nie.
    Ich frage meine Eltern, ob wir eventuell umziehen könnten. Vielleicht nach Irland, da würde ich ein Schaf haben und auf einer Wiese neben dem Schaf sitzen und das Gras anstarren. Von mir aus aber auch einfach nur in einen anderen Bezirk oder wenigstens eine Straße weiter. Meine Eltern schütteln den Kopf über mich. Das kann ich gut verstehen. Aber ich kann ihnen leider nicht erklären, dass ich ein Problem damit habe, Tag für Tag an der Tür vorbeizugehen, hinter der
er
einmal gewohnt hat und hinter der immer noch ein Teil von mir liegt und schreit und wimmert.
    Trotz wirrer Stimmen im Kopf bin ich noch klar genug bei Verstand, um den Mund zu halten, denn wer würde mir schon glauben? Meine Mutter fand
ihn
nett, weil
er
ihr manchmal die Einkaufstüten hochgetragen hat, und einmal hat sie zu mir gesagt, ich könnte mir ruhig mal ein Beispiel an
ihm
nehmen. Aber ich nehme mir lieber eine Rasierklinge von meinem Vater und zeichne Bilder auf meinen Unterarm.
    Meinen Körper misshandeln. Darin werde ich mit der Zeit richtig gut. Ich kratze mir meine Arme blutig, ich renne mit Absicht gegen Schränke und Türen, ich halte mir glühende Metallstäbchen auf die Haut und beiße mich, bis ich Blut schmecke. Meine Eltern merken nie etwas, und die Kratzer auf meinen Armen halten sie für Ausschlag.
    An einem Ostermontag verbietet mein Vater mir, meine Zimmertür zu schließen.
    »Du sollst dich nicht von der Familie abkapseln!«, brüllt er, und die Schokohasen auf dem Tisch wackeln genervt. »Wie oft habe ich dir das schon gesagt? Du weißt doch, dass ich nicht ständig an deiner geschlossenen Tür vorbeilaufen will!«
    »Was du sagst, und was ich weiß, sind zwei grundverschiedene Dinge«, antworte ich.
    Lautlos versteht sich.
    Dann nicke ich brav. Als wäre ich eine Jungfrau. Unangetastet und lieblich.
    Von nun an gehe ich ins Bad, drehe den Wasserhahn auf und tue so, als würde ich baden – aber stattdessen sitze ich auf den kalten Fliesen, wo ich meine Ruhe habe und so lange vor mich hin träumen kann, wie ich will, ohne dass jemand kommt, der mir sagt, wie falsch doch alles an mir ist.
    Während dieser Stunden neben der Badewanne habe ich auf einmal einen Geistesblitz: Je mehr von mir auf dieser Welt ist, desto schlimmer. Wenn ich verschwinden könnte, wäre alles besser. Gedacht, getan. Ich höre auf zu essen.
    Ich will zwanzig Kilo wiegen, von mir aus auch nur zehn, denn dann bin ich so wenig da, dass es gar nicht mehr richtig zählt, und dann ist es vielleicht okay, dass ich da bin. Also ernähre ich mich nur noch von Gurken und Äpfeln. Eigentlich will ich überhaupt nichts mehr essen, aber dann fühle ich mich ständig so schlapp, dass ich den Weg zur Schule nicht schaffe oder anfange zu zittern, wenn ich meine Schuhe anziehen will.
    Ich nehme ab. Über zehn Kilo, innerhalb von kürzester Zeit. Aber ich bin
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