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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt
Autoren: Lilly Lindner
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sage ich.
    »Ist wirklich alles okay mit dir?«, fragt Clara mit ihrer hellen Stimme, die ein bisschen wie Musik klingt.
    Ich nicke schnell. Und dann laufe ich weg.
    Während ich die Treppen hochflitze, höre ich, wie Clara ihre Tür ins Schloss zieht. Das Geräusch ist genauso, wie es bei
ihm
war, vielleicht etwas leiser. Aber
er
ist nicht mehr da. Und ich bin es auch nicht. Ich kann nicht mehr vor der Tür stehen und warten, dass mein Körper herauskommt. Kein Mensch kann für immer warten.
    Clara mit ihrer Violine ist jetzt in dieser Wohnung. Sie wird in dem Wohnzimmer, in dem ich vergewaltigt worden bin, das grüne Buch lesen und dabei ihre Bananen essen. Ich sehe das Bild ganz deutlich vor mir: Clara lacht. Weil das Buch lustig ist. Der Teppichboden ist weich und sauber. Da ist kein Blut von mir. Die Violine liegt in einem Kasten auf dem Wohnzimmertisch. Die Vorhänge sind nicht zugezogen, Sonne scheint durch die offenen Fenster. Es gibt nichts zu verbergen.
    Da beschließe ich zu vergessen. Mein Kopf wird von einem höllischen Schmerz durchbohrt, als ich ihn so fest, wie ich kann, gegen den Türrahmen von meinem Zimmer schlage und anschließend benebelt auf den Boden sinke. Die Gehirnerschütterung ist nicht schlimm. Der Arzt sagt: »Das wird schon wieder.« Und während mein dröhnender Kopf noch ganz schwindlig ist vor lauter Schmerzen, nehme ich schnell ein riesengroßes, schweres Vorhängeschloss und hänge es sorgfältig vor alle Erinnerungen an den bösen Mann.
    »Jetzt darfst du wieder lächeln«, sage ich zu mir.
    »Na, los. Das kann doch nicht so schwer sein!«, füge ich ungeduldig hinzu.
    Also lächle ich, weil ich nicht mit mir streiten möchte.
    Aber die Schande auf meinem Körper ist trotzdem noch da, und meine Brüste sind noch immer zu groß. Außerdem muss ich weiterhin in einen Schwimmverein gehen, weil mein Vater mich sonst vielleicht gegen ein anderes Kind eintauscht, und im Schwimmbad muss ich einen Badeanzug tragen, in dem viel zu viel von meinem missbrauchten Körper zu sehen ist.
    Nein, halt.
    Da ist doch jetzt das Vorhängeschloss, ich muss mich nicht mehr daran erinnern. Ich kann einen Badeanzug tragen, ohne daran zu scheitern.
    Es ist ganz einfach.
    Unsicher und schwankend stehe ich auf dem Sprungbrett, vielleicht verschließt sich die Wasseroberfläche über mir, sobald ich gesprungen und untergetaucht bin.
    Vielleicht versinke ich, und alles ist vorbei.
    Vielleicht. Vielleicht.
     
    Ich male dreizehn Blutstropfen an die Wand hinter meinem Schrank, für jedes meiner zwölf Lebensjahre einen, und einen Tropfen mehr, falls ich das nächste Jahr erreichen sollte. In meinen Stundenplan trage ich ein paar zusätzliche Stunden ein, ich hänge hier und da noch eine Deutsch- und Mathematikstunde dran, damit sich meine Eltern nicht wundern, wenn ich etwas später von der Schule komme. Aber das tun sie ja sowieso nicht. Die freien Stunden verbringe ich dann im Park. Dort setze ich mich auf eine schiefe Holzbank und warte auf mein Ende.
    Es lässt sich nicht blicken.
    Also muss ich nach Hause gehen.
    Meine Noten sind mittelmäßig bis gut, ich habe meistens Zweien und Dreien, aber meine Eltern schimpfen trotzdem. Meine Mutter findet es schrecklich, dass ich in Deutsch nur eine Drei habe, sie meint, ich müsste ja wohl wenigstens meine eigene Sprache vernünftig beherrschen. Doch obwohl ich viel lese und auch gerne schreibe, bekomme ich in Diktaten immer nur eine Drei. Mir ist das egal, ich glaube nicht, dass Zahlen von eins bis sechs den Wert eines Menschen darstellen können, aber meine Mutter ist nach jedem Diktat, das ich zum Unterschreiben nach Hause bringe, schrecklich sauer auf mich, und ich fühle mich wie ein Versager.
    Doch irgendwann geht die Grundschulzeit vorbei.
    Und irgendwann bekommen auch die anderen Mädchen Brüste.
     
    Während der Sommerferien, vor dem ersten Jahr auf dem Gymnasium, schicke ich Tausende von Stoßgebeten in den Himmel, dass doch bitte, bitte, endlich alles ein bisschen einfacher werden wird. Aber Gott hat viel zu tun, und so stehe ich alleine da.
    In der Klasse. Auf dem Schulhof.
    Im ersten Jahr. Im zweiten Jahr. In jedem Jahr.
    Ganz egal, wer sich zu mir gesellt, wie auch immer meine Freunde heißen: Auf Abstand bleiben – das ist der Grundstein meines Daseins.
    Aber glücklicherweise haben sogar Mädchen wie ich eine beste Freundin. Es ändert zwar nichts an der Tatsache, dass ich abseits stehe, doch zu zweit auf dem Schulhof herumzulungern ist immer
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