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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt
Autoren: Lilly Lindner
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noch unauffälliger, als alleine neben einem Baum zu sitzen. Und wer unauffällig ist, wird weniger schnell entführt und vergewaltigt.
    Das hoffe ich jedenfalls.
    Seit ich die Grundschule hinter mir gelassen habe, bekomme ich nur noch Einsen und Zweien in allen Fächern. Ohne groß dafür lernen zu müssen, schreibe ich die klassenbesten Arbeiten und liefere fehlerfreie Aufsätze ab.
    So,
überlege ich mir,
jetzt können meine Eltern mich endlich lieben.
    Aber meinen Eltern ist das egal. Vielleicht meckern sie etwas weniger als zuvor, vielleicht sind die Blicke, die sie mir zuwerfen, um ein paar Zehntel freundlicher, aber das wahrscheinlich auch nur, weil sie zu wenig Zeit oder Lust haben, sich mit mir zu beschäftigen. Ich denke lange darüber nach, ob ich weinen soll. Oder ob es sinnvoll wäre, eine Anzeige in die Zeitung zu setzen, auf der Suche nach anderen Eltern. Aber dann schlitze ich mir einfach ein bisschen die Arme auf, und in der Stille, die mich umgibt, während mein Blut auf die Fliesen im Badezimmer tropft, lese ich immer wieder das erste Kapitel von irgendeinem Buch, bis ich jedes einzelne Wort auswendig kenne.
    Anschließend wische ich den Boden, pflastere meinen Arm zusammen und starre in mein zurückglotzendes Spiegelbild.
    So einfach überwindet man Schmerzen.
     
    Ich gehe in die Schule, ich gehe nach Hause, ich gehe schwimmen, ich gehe nach Hause, ich gehe an meinen Eltern vorbei, ich gehe um meine Eltern herum, ich bleibe vor der
einen
Tür stehen, ich stürme an der gleichen Tür vorbei.
    Ich funktioniere hervorragend.
    Denn wir alle müssen den Tag bestehen.
    Wenn wir einen nächsten haben wollen.
    Aber ich hasse mein Leben so sehr, dass ich die Minuten zähle, bis endlich wieder der Abend kommt und ich schlafen gehen kann.
    Wenn man ohne Unterlass mit seinen Wahnvorstellungen um jeden Teilabschnitt des unbekannten Ganzen pokert, dann braucht man viel Ruhe. Also ziehe ich mich immer weiter zurück. Ich habe keine Lust auf Partys, ich will nicht mit meinen Freundinnen shoppen oder ins Kino gehen. Ich will am liebsten gar keine Menschen mehr in meiner Nähe haben, und als festen Freund könnte ich mir höchstens jemanden vorstellen, der mich verschleppt, in seinem Keller einsperrt und nie wieder hinauslässt – anders kann ich mir eine Beziehung mit einem Mann nicht vorstellen.
     
    An einem windigen Herbsttag stehe ich am Lietzensee und halte einen schwarzen Stein in der Hand. Mit meinen Fingerspitzen streiche ich sanft über die glatte Oberfläche. Der Stein ist kalt und beständig. Es würde ihn nicht im Geringsten stören, wenn ich auf ihm herumtrampelte oder wenn ich ihn benutzen würde, um jemandem den Kopf einzuschlagen.
    So will ich sein, denke ich, kalt und hart.
    Ich will nie wieder etwas empfinden müssen, ich will, dass mir alles uneingeschränkt egal ist. Und ich werde niemandem mehr das Recht geben, mich zu verletzen; ich werde nie wieder jemanden nah genug an mich heranlassen, um berührt zu werden.
    Der Stein blickt mich so kalt an, als würde er daran zweifeln.
    »Du kannst mich mal«, sage ich zu ihm und werfe ihn im hohen Bogen auf den See hinaus.
    Er lacht. Denn er wird nicht ertrinken. Er kann so lange die Luft anhalten, wie er will.
     
    Den größten Teil meiner Freizeit verbringe ich auf meinem Bett, umgeben von einem Stapel von Büchern. So flüchte ich in die Welt der Geschichten und lebe mehr dort als irgendwo sonst. Wenn ich ein Buch zu Ende gelesen habe, es schließlich zuklappe und zurückkehren muss in die schreckliche Wirklichkeit, in der ich viel zu viel vergewaltigt und viel zu unperfekt bin, dann möchte ich mich am liebsten selbst für den Rest meines Lebens in Ketten legen, damit ich nicht noch mehr Katastrophen anrichten kann.
    Ich versuche alles leichter zu machen, indem ich alles unpersönlicher mache. Ich reiße die Bilder von meinen Wänden und werfe sie weg. Ich beziehe mein Bett mit weißer Bettwäsche, ich verhänge meine Regale mit weißen Laken und lasse nur meinen Nachttisch frei, auf dem ich die paar Sachen aufbewahre, die ich mir als spärlichen Besitz gönne: drei Bücher, ein Kartenspiel, eine Zahnbürste, Zahnpasta, Shampoo, einen Block und vier Stifte.
    Aber irgendwie geht es mir trotzdem nicht besser, ich habe nach wie vor Gefühle – ich bin nicht annähernd wie ein Stein. Stattdessen liege ich jeden Abend im Bett und weine, da mein Vater wieder den ganzen Tag herumgemault hat, weil ich irgendetwas falsch gemacht habe. Weil ich meine
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