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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt
Autoren: Lilly Lindner
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heißt, meine Mutter rauscht wortlos an mir vorbei aus dem Zimmer, natürlich nicht, ohne mir einen letzten wütenden Blick zuzuwerfen, und mein Vater räuspert sich ein paarmal, bevor er mich eine halbe Sekunde lang umarmt.
    Ich könnte jetzt ein ganzes Buch füllen mit den Geschichten von diesem Klinikaufenthalt. Ich könnte loslegen und den ganzen Block C von Zimmer 35 bis 50 einzig und allein durch meine Worte freilegen. Aber ich würde abschweifen und niemals vorwärtskommen mit dem, was ich eigentlich erzählen möchte. Denn in dieser Zeit war ich zum ersten Mal kein Außenseiter, kein seltsames Objekt, das man anstarrt und über das man hinter vorgehaltenen Händen flüstert. Es gab dort sogar Mädchen, die noch weniger aßen als ich. Das war gar nicht so einfach, wenn man bedenkt, dass ich mich damals auf einen halben Apfel, zwei Pflaumen und eine Tomate pro Tag spezialisiert habe, während ich alle anderen Lebensmittel irgendwie verschwinden ließ – bis ich dann schließlich zum Essen gezwungen wurde.
    Was für ein Drama.
    Ich würde niemals sagen, die Zeit in der Klinik war schlimm. Selbst wenn sie es doch war. Denn ich war eingeschlossen genug, um freier als je zuvor zu sein. Und außerdem war ich weg von meinen Eltern, weg von der Schule. Ich konnte atmen. Ich wusste, was der nächste Tag bringen würde. Ich hatte einen Plan mit geregelten Zeitabschnitten, und weiße Wände zum Anstarren hatte ich auch.
    Ich hatte sogar Freunde. Ich wusste, dass diese Freundschaften in der wahren Welt nicht fortbestehen würden, aber ich habe sie genossen. Für den Augenblick mehr als alles andere.
    Ich erinnere mich an Phillip. Er war der Grund, aus dem wir Volleyball immer ohne Netz spielen mussten. Denn Phillip hatte es geklaut, um sich damit aufzuhängen, und selbst nach einer stundenlangen Suche konnte es keiner vom Klinikpersonal finden. Das mit dem Aufhängen hat sich Phillip dann noch einmal überlegt. Zum Glück. Ich habe ihn gemocht, und ich habe nie wieder einen Jungen getroffen, der so von Emotionen hin und her gerissen durch sein Leben getaumelt ist wie er. So beängstigend, so gewaltig, so sanft, so brutal, so schön, so laut und trotzdem auf ganz leisen Füßen.
    Am letzten Abend, nach zwei Monaten im Exil, habe ich mir eine Packung Taschentücher geholt und geweint und geweint, bis ich nicht mehr konnte. Weil ich schreckliche Angst vor meiner Zukunft hatte und weil ich nicht bereit war zurückzukehren; weil ich wusste, dass ich noch immer ein einziger Fehler war.

3
    Z u Hause. Freiheit. Das normale Leben.
    Die ersten Wochen stehe ich unter Schock. Es ist alles viel zu viel. Viel. Zu. Viel. Die Worte, die ich benutze, klingen fremd aus meinem Mund, als würde mich ein unpassender Sprecher synchronisieren. Die Welt ist so laut. Ich bin vollkommen fehl am Platz. In der Schule starren mich alle an. Ich bin ein Freak. Ich bin die Einzige in meiner Klasse, die dermaßen irre ist, dass sie sich selbst einweisen lässt.
    Und was soll ich jetzt mit all der freien Zeit anfangen? Ich darf rausgehen. Einfach so. Ohne Ausgangspass. Ohne Formulare auszufüllen. Ich muss mich nicht pünktlich um 7  Uhr, um 10  Uhr, um 12  Uhr, um 16  Uhr und um 18  Uhr im Speisesaal einfinden. Ich muss nicht um 21  Uhr im Bett liegen und das Licht ausschalten. Was soll ich nur machen? Wo soll ich hingehen? Wie funktioniert das alles?
    Einkaufen.
    Freunde treffen.
    Kino.
    Schule.
    Park.
    Und dann?
    Ich bemühe mich. Allen anderen Menschen gelingt es schließlich, morgens aufzustehen und zur Schule oder zur Arbeit zu gehen, ohne dabei den Verstand zu verlieren, also muss ich das doch auch schaffen! Wozu habe ich leben gelernt?
    Dann fängt es an zu schneien. Im Herbst, als wäre es längst Winter. Und da gewöhne ich mich langsam wieder an all das; was bleibt mir auch anderes übrig – die Zeit wartet auf niemanden, besonders nicht auf Mädchen wie mich.
    Ich bin sechzehn Jahre alt, mein Leben ist das Letzte, was ich gebrauchen kann, und ich würde mir lieber ein Küchenmesser in den Arm stechen, als in die Schule zu gehen. Aber ich muss dorthin, also sitze ich stumm auf meinem Platz und versuche so bescheiden wie möglich zu atmen. Denn ich habe panische Angst davor, dass mich alle neugierig anglotzen und mir unangenehme Fragen stellen. Überhaupt sage ich fast gar nichts mehr und verziehe mich in den Pausen lieber auf irgendeine ruhige Bank und tue so, als würde ich ein Buch lesen. In Wahrheit aber zähle ich die Sekunden,
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