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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt
Autoren: Lilly Lindner
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Vater schnauzt mich an, und ich tue so, als würde ich ihm voller Hingabe lauschen, aber in Wirklichkeit zähle ich Mädchen in roten Frühlingskleidern, die über Zäune hüpfen und auf der anderen Seite direkt vor dem Maul des bösen Wolfs landen. Jedes dritte wird zerfetzt und gefressen.
    Meine Mutter hat auch schlechte Laune. Wie berechenbar sie aussieht, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommt und sich ihren Lippenstift mitsamt dem Lächeln aus ihrem Gesicht wischt.
    Es gibt Reis mit Gemüse und Soße. Ich mag eigentlich keinen Reis, aber mir ist so schwindlig vom ewigen Hungern, dass ich nicht einmal mehr richtig gucken kann, ohne dass alles um mich herum ständig verschwimmt oder die Plätze vertauscht. Also esse ich.
    »Iss nicht so viel!«, sagt mein Vater.
    Und da stehe ich auf, stelle den Teller in die Spüle, gehe ins Bad, tue so, als würde ich duschen, und erbreche stattdessen lautlos in die Toilette. Dann gehe ich in mein Zimmer, öffne das Fenster, so weit es geht, lege mich nackt auf mein Bett und decke mich nicht zu. Die Zimmerdecke verschiebt sich und dreht sich viermal um sich selbst, dann rast sie auf mich zu und explodiert. Ich kneife meine Augen zusammen und versuche die Störung wegzublinzeln, aber Gott hat die Welt auch nicht an einem Tag erschaffen.
    Meine Hände werden eiskalt, meine Haut ist längst rauh und taub. Ich warte auf eine Lungenentzündung oder auf den Tod durch Erfrieren. Es ist sinnlos, denn der Tod kommt selten wie gerufen, er ist lieber zu früh oder zu spät, zu überraschend oder zu grausam.
    Also bleibe ich wach.
     
    Der nächste Tag ist wärmer, aber davon merke ich nichts. In der Schule stehen meine Klassenkameraden in Gruppen zusammen und unterhalten sich über die coolsten Partys, die angesagtesten Läden, den geilsten Alkohol und die Charts. Ich bin neidisch. Ich würde das auch so gerne können. Aber ich stehe stumm daneben und versuche, nicht ohnmächtig zu werden, weil mir plötzlich, wie aus dem Nichts, der Geruch des einen Mannes in die Nase fährt: Alkohol und ein Gestank, der mich benebelt. Schwer und erdrückend liegt
er
auf mir. Die widerlichen Tage sind nicht gezählt. Wenn es hart auf hart kommt, muss man ziemlich lange ficken.
    »Was ist los mit dir?«, fragt meine Klassenkameradin Miriam und rammt mir einen Ellbogen in die Seite.
    »Nichts«, antworte ich.
    »Du siehst aber ganz schön blass aus«, erwidert sie.
    »Es geht mir gut!«, beteuere ich.
    Dann flüchte ich auf die Toilette, huste Blut und probe vor dem Spiegel ein unbeschwertes Grinsen, bevor ich wieder zurück zu meinen Mitschülern gehe.
    »Ist wirklich alles okay?«, fragt Miriam. »Jetzt siehst du nämlich noch blasser aus. Und das passt nicht so gut zu deinem ohnehin schon hellen Outfit.«
    Alle starren mich an. Wahrscheinlich denken sie, dass gleich die Männer in Weiß aus dem Gebüsch hervorspringen und mich zurück in die Klinik schleifen. Von mir aus könnten die sogar kommen, aber das Einzige, was im Gebüsch raschelt, ist ein Spatz auf der Suche nach weggeworfenen Pausenbroten.
    Ich halte den Blicken stand. Fünf Minuten lang. Dann gehe ich ins Sekretariat, melde mich krank und fahre nach Hause.
    Nach Hause.
    Das ist ein guter Running Gag.
    Die Wohnung ist leer. Ich bin dankbar dafür und gehe in mein Zimmer. Dort lege ich mich auf mein Bett und starre die Kommode an. Darauf steht immer noch die Packung mit meinen Psychotabletten.
    Eine Stimme in meinem Kopf sagt: »Schluck sie alle auf einmal runter!«
    Eine andere Stimme sagt: »Au ja, und dann noch eine Schachtel Aspirin als Nachspeise!«
    Eine dritte Stimme sagt leise und verführerisch: »Eine Tablette für den Anfang kann auf gar keinen Fall schaden …«
    Also stehe ich auf, falle in Ohnmacht, stehe wieder auf und gehe in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen. Kurz darauf sitze ich erneut auf meinem Bett, öffne die Tablettenschachtel und überfliege schnell noch den Beipackzettel – zwei Seiten voll mit möglichen Nebenwirkungen. Ich zerreiße ihn achtlos, denke: »Jaja, ist mir doch egal …«, dann drücke ich eine Tablette aus der Folie, lege sie mir auf die Zunge, kippe Wasser hinterher und schlucke.
    Zwanzig Minuten später treten sämtliche der möglichen Nebenwirkungen gleichzeitig auf. Mein Herz beginnt zu rasen und so heftig zu pochen, dass ich vor Angst kaum noch atmen kann. Mir wird übel, alles dreht sich, ich schwitze und friere, ich kann nicht mehr geradeaus laufen, meine Pupillen werden größer
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