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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt
Autoren: Lilly Lindner
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wissen.
    »Ich war beim Jugendamt, die schicken euch einen Brief«, erkläre ich.
    »Einen Brief«, wiederholt mein Vater.
    »Ja, oder du kannst da auch anrufen, wenn du magst«, erwidere ich.
    »Weiß deine Mutter Bescheid?«, fragt mein Vater.
    »Du weißt Bescheid«, sage ich.
    »Was du nicht sagst«, erwidert er.
    Eine Weile schweigen wir uns an.
    »Soll ich dir beim Packen helfen?«, fragt mein Vater schließlich.
    Und ich nicke.
     
    Die Luft riecht nach Winter, der Herbst verzieht sich allmählich mit seinen bunten Farben, und es ist früh am Nachmittag, als mein Vater und ich die Wohnung verlassen. Er trägt meinen Koffer, und ich trage eine Tüte voll mit Büchern sowie einen Rucksack. Wir reden nicht viel, und ich frage mich, ob mein Vater wohl froh ist, dass er mich gleich los ist, oder ob er weint, wenn ich weg bin; oder ob es vielleicht gar keinen Unterschied für ihn macht, solange er nur eine Packung Ingwerkekse auf seinem Schreibtisch liegen hat.
    »Bist du traurig?«, frage ich ihn, nachdem wir zehn Minuten lang wortlos durch die Straßen gefahren sind.
    »Warum?«, fragt mein Vater.
    »Weil ich ausziehe«, erkläre ich.
    »Nein«, sagt er, »wenn du das so möchtest, dann ist doch alles okay.«
    Ich weine nicht, als er das sagt.
    Aber später im Jugendheim, als er weg ist und ich in dem kahlen Zimmer auf meinem neuen Bett sitze, dem Bett, in dem schon so viele verlorene Kinder vor mir geschlafen haben, da weine ich. Lautlos und still, wie ich es immer tue, wenn ich mir zugestehe, ein Häufchen Elend zu sein.
    Die Einrichtung heißt »Frohsinn«. Aber froh ist da keiner. Und Sinn macht es auch nicht. Dafür sind die Jugendlichen nett – den Umständen entsprechend. Denn man ist andersartig nett, wenn man gerade von seinem Stiefvater ins Koma geprügelt und anschließend ohne einen Abschiedsgruß abgeschoben wurde.
    David, der Jüngste, ist dreizehn und versucht manchmal das Heim anzuzünden. Deshalb gibt es auch keine Vorhänge mehr, die hat er alle längst abgefackelt. Erik ist mit siebzehn Jahren der Älteste von uns, und manchmal kommt er nachts in mein Zimmer und überschüttet mich mit eiskaltem Wasser oder kippt mir heißes Wachs ins Gesicht.
    »Sei froh, dass ich es nicht woanders hinkippe!«, sagt Erik und hält dabei meinen Arm mit seinem Schraubstockgriff umklammert.
    Ich bin nicht froh. Ich bin eine gleichgültige Zusammensetzung defekter Atome. Aber wenn ich Schmerzen empfinde, dann weiß ich wenigstens, dass ich noch da bin. Und
da sein
ist besser als
weg sein
 – vor allem, wenn man nicht weiß, ob es nach dem Wegsein ein neues Dasein geben wird.
     
    Im Haus »Frohsinn« ist Platz für dreizehn Kinder. Irgendwer geht immer oder kommt neu dazu, irgendwer ist immer verschwunden oder taucht nach einigen Tagen wieder auf. Im Großen und Ganzen kommen wir gut miteinander klar, denn wir sind alle Außenseiter, und was verbindet mehr als die Tatsache, nicht dazuzugehören? Wir haben Eltern, die uns nicht mehr haben wollen, oder Eltern, die wir nicht mehr haben wollen. Wir haben Eltern, die uns nicht ertragen, wegen unseres Betragens oder weil wir nicht tragen wollen, was sie uns auftragen, oder weil sie es nicht vertragen, uns mit sich zu tragen auf dem Weg dieser Tragödie ins ertragreiche Land.
    Aber das macht nichts, denn im »Frohsinn« sind wir eine große, überglückliche und konstant vorbildliche Familie. Manchmal schlägt Dennis Erik, oder Erik schlägt Sofie. Oder Dennis schlägt Erik und Sofie, und dann schlagen Sofie und Erik erst Dennis und dann Marcel und dann wieder Erik. Hin und wieder schmeißt Jacqueline beim Essen ihren Teller an die Wand. Oder ihr Glas oder ihre Tasse oder die Salatschüssel. Manchmal brennt das Wohnzimmer, und David steht lachend mittendrin. Einmal im Monat ist der Krankenwagen da, weil Anja eine Flasche Abflussreiniger auf ex getrunken oder Marcel sich mit Drogen vollgepumpt hat. Hin und wieder steht Gevin auf dem Dach, und ein genervter Betreuer steht unten im Garten und guckt ungeduldig zu ihm hoch. Jeden Mittwoch, Freitag und Sonntag brechen David oder Lara die Speisekammer auf. Jeden Dienstag und Freitag kommt Erik nicht in der Schule an, weil er Besseres zu tun hat, und von Montag bis Sonntag werden uns irgendwelche Verbote aufgebrummt, ganz egal, ob wir schuld an etwas waren oder nicht.
     
    An Weihnachten warte ich mit Anja darauf, dass ihre Eltern vorbeikommen. Sie wurde als kleines Kind adoptiert, und dann mit zwölf Jahren von einem Tag auf
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